10 Thesen zum Ukraine – Konflikt

Prof. em. Dr. Günter Brakelmann, Bochum

1. Die allgemeine Empörung gegen Putins Krieg ist verständlich und notwendig. Aber es bleibt immer zu beachten, dass es nicht ein Krieg gegen die angrenzenden europäischen Staaten ist, die in der NATO ihr Verteidigungsbündnis haben. Humane Hilfe für die Menschen in der Ukraine ist selbstverständlich, aber Vorsicht dürfte geboten sein, bei der völligen Isolation Russlands von der gesamten westlichen Welt. Das völlige Abschneiden der zahlreichen und vielfältigen Beziehungen zu Russland kann nicht den internationalen Frieden fördern, sondern eventuell Russland zwingen, die nächste militärische Eskalationsstufe in Szene zu setzen, die mit der Möglichkeit verbunden ist, den Krieg der beiden Nationen in einen europäischen Krieg und dann in einen Weltkrieg auszuweiten.

2. Die Frage dürfte sein, wie kann man zur Deeskalation des laufenden Krieges kommen. Im Krieg selbst muss der Frieden vorbereitet werden. Am Ende muss eine neue vereinbarte Zukunft der Konfliktparteien stehen. Russland muss seinerseits einen neuen modus vivendi mit dem ukrainischen Volk und seiner politischen Vertretung finden. Trotz der hohen Flüchtlingszahlen bleibt die Mehrheit im Lande. Für sie muss eine neue politische Ordnung geschaffen werden. Die Nachkriegszeit muss eine Zeit des Wiederaufbaus werden. Was aber kaum Wirklichkeit werden kann, ist die Wiederherstellung des status quo ante.

3. Russland will die Zerschlagung eines selbständigen Staates der Ukraine. Es soll eingegliedert werden in die Russische Föderation. Ob die ukrainische Armee das verhindern kann und es zu gleichwertigen Verhandlungen zwischen den feindlichen Konfliktparteien kommen kann, ist völlig offen. Eine militärische Kapitulation der Ukraine wäre das Ende eines souveränen ukrainischen Staates.

4. Frage: was kann der Westen tun, dass es nicht zu diesem Ergebnis kommt?  Ob weitere Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine die Niederlage aufhalten können, dürfte unwahrscheinlich sein. Es bleibt nichts Anderes übrig, bald neue Kontakte zu Putin aufzunehmen, der ja jetzt die Einigkeit des Westens erfahren hat und nicht mehr auf dessen Spaltung setzen kann. Der Westen sollte alles unterlassen, was Russland bewegen könnte, aus dem Konflikt mit der Ukraine einen Konflikt mit der NATO zu beginnen. Das würde zu einem Weltkrieg führen, der große Teile der Welt unbewohnbar machen würde.  Der Westen muss sich fragen, ob diese Möglichkeit angesichts des „kleinen Konfliktes“ verantwortet werden kann.

5. Aus einem weltpolitisch kleinen Konflikt den großen Konflikt werden zu lassen, dürfte dann das nächste globale politische Verbrechen Realität werden lassen. Millionen von Menschen mit ihren nationalen, religiösen und gesellschaftlichen  Lebens- und Denkweisen um eines kriegerischen Konfliktes zwischen einer Weltmacht und einem kleinen Nationalstaat vernichten zu lassen, dürfte nicht verantwortet werden können.

6. Keiner weiß, wie der Krieg zwischen dem „Riesen“ und dem „Zwerg“ ausgehen wird. Nach einer zu erwartenden Niederlage wird die Ukraine als Staat, wenn er überhaupt noch besteht, einige Bedingungen des Siegers annehmen müssen. Dazu könnte eine Teilung des Landes gehören: Russland nimmt Teile der Ostukraine mit ihrer Mehrheit an russischen Bewohnern in ihre Föderation auf und stimmt einer Neutralisierung der Restukraine zu, der eine besondere Beziehung zur Europäischen Union zugestanden wird, aber nicht ein Beitritt in die NATO.   Innenpolitisch kann sich der verkleinerte Staat der Ukraine im Sinne der ordnungspolitischen Mehrheit seiner Bürger neu entwickeln.

7. Beim Wiederaufbau der Zerstörungen können sich die EU und ihre Einzelstaaten, der Internationale Währungsfond (IWF) und die Weltbank intensiv beteiligen. Es ist nicht zu erwarten, dass sich der siegreiche Aggressor mit Reparationen für die von ihm verursachten Schäden beteiligt.

8. Ein Rückblick: Wir Deutsche haben überwiegend die Auflösung der Sowjetunion emphatisch als Sieg des demokratischen Westens über den totalitären Kommunismus gefeiert. Aber auch die neue politische Ordnung nach Stalins Tod wie nach der Auflösung der UDSSR wurde von vielen Deutschen immer noch als Bedrohung aus dem Osten empfunden. Es war zwar ein Land ohne Stalin, aber es blieb der fremde Staat mit aggressiven Einstellungen zum Westen. Weder die Entstalinisierung noch die Versuche, ein modernes Staatswesen mit demokratischen Elementen zu entwickeln, wurden vom Westen nie ganz ernst genommen. Russland blieb für ihn der Unrechts- und Militärstaat. Was in Russland an Reformversuchen auch vor sich ging, es blieb für viele Deutsche eine tiefe Abneigung gegen alles Russische. Dass Russland in entscheidenden Teilern historisch und kulturell zu Europa gehört, dass z. B. russische Schriftsteller wie Dostojewski, Tolstoi und andere zur europäischen Geistesgeschichte gehören, geht im historischen Gedächtnis vieler Deutscher verloren.

Es wird selten daran erinnert, dass Russland die weitaus meisten Opfer und Zerstörungen im 2. Weltkrieg gehabt hat und dass die „Rote Armee“ ihren entscheidenden Anteil an der Niederlage des deutschen Nationalsozialismus gehabt hat. Die stalinistische Nachkriegspolitik hat mit ihrer imperialen Politik auf kommunistischer Grundlage diese Fakten verdrängt. Das NS-Russlandbild wirkte bei vielen Deutschen nach. Und das Verhalten des autoritären Putin und seiner Armee in der Aggression in die Ukraine lässt viele Deutsche, die unter der russischen Besatzungsarmee und unter der stalinistischen Politik das Verhalten der „roten Armee“ in der Endzeit des 2. Weltkrieges, gelitten haben, in Parallele zu den heutigen Ereignissen setzen. Viele haben auch nicht die Abtretung deutscher Länder und die Teilung Deutschlands im Sinne von Jalta und Potsdam vergessen und als völkerrechtliches Unrecht erlebt. Russland selbst hat als deutschen Boden nur die Enklave Königsberg bekommen, hat aber eine entscheidende Rolle bei der Neuorganisation der europäischen Landkarte  gespielt. Es wird dabei häufig vergessen, dass die westalliierten Siegermächte voll und ganz hinter der Nachkriegsordnung Europas gestanden haben. Das Sowjetimperium schob sich unter Anerkennung der Westalliierten weit nach Mitteleuropa hinein. Es bestimmte auch weithin, was in der Sowjetisch besetzten Zone (SBZ), der späteren DDR, politisch und ökonomisch geschah. Die mit hohen Gefängnisstrafen endenden politischen Prozesse, die Enteignungen und die Begrenzung der polischen Rechte der einzelnen Staatsbürger zugunsten einer sozialistischen Gesellschaft eröffneten den Weg zu einer sozialistischen Diktatur. Und die DDR-Führung hing außenpolitisch an der langen Kette Moskaus.

Diese und viele andere Fakten ließen Russland in den Augen vieler Deutscher zum radikalen Feind eines demokratischen Rechtsstaates werden. Auch die Veränderungen während der Gorbatschow-Phase  und der folgenden Phasen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion änderten die emotionale Gegnerschaft zu Russland nur unwesentlich. Russland war durch die Auflösung der UDSSR der ideologische und politisch geschlagene Feind, aber es blieb der Feind westlicher demokratischer Ordnungen.

Dass Russland trotz seiner inneren Veränderungen der antidemokratische  Gegner geblieben ist, zeigt der Überfall Putins auf die Ukraine, in der er ein Vorposten westlicher Ordnung gesehen hat. Es geht ihm unter anderem jetzt darum, die Ukraine, die jahrhundelang zum Zarenreich und zum Sowjetimperium gehört hat und erst 1991 ein selbständiger souveräner Staat in einer Schwächeperiode Russlands geworden war,  wieder der russischen Föderation einzugliedern. Eine andere Lebens- und Denkform als die seinige will er neben seinem autoritären Staat altrussischer Prägung nicht zulassen.

7. Wir müssen Putin und seinen russischen Anhängern zeigen, dass wir sein autoritäres bis totalitäres System für eine politische Ordnung halten, die gegen die neuzeitlichen aufgeklärten Prinzipien der Freiheit des Denkens und der Gewaltenteilung verstoßen. Sein System erinnert in vielem an zaristische Zeiten und stalinistische Praktiken. Die russische Gesellschaft, die in ihren ethnischen Zusammensetzungen (80 % sind Russen) nicht unkompliziert ist, muss selbst entscheiden, wie lange sie das Putinsche Herrschafts- und Rechtssystem ertragen will. Nur ihre Selbstbefreiung – in welchen Formen auch immer – kann neue politische und geistige Zukunft entbinden. Wir wissen, dass es ein „anderes Russland“ gibt, das sich im Moment nicht offen artikulieren kann. Putin ist nicht Russland, es gibt philosophische, geistig-kulturelle und politische Ordnungsvorstellungen, die das bestehende System innerlich sprengen und einem neuen Russland andere Perspektiven geben können.

8. Die Frage ist, wie wir uns als Deutsche in der jetzigen Situation zu Russland verhalten. Das klare Nein zu Putins Ukraine-Krieg kann nicht mit einem radikalen Nein zu Russland und seinen Völkern verbunden werden. Russland bleibt, wie auch immer dieser Krieg ausgehen mag, der größte europäische Nachbar Deutschlands. Will man nicht einen neuen „kalten Krieg“ mit eisernen Vorhängen folgen lassen, so muss jetzt schon überlegt werden, ob und wie wir unsere Nachbarschaft neu gestalten können. Schon jetzt wäre zu überlegen, wieweit man mit den sog. Sanktionsmaßnahmen, die man auch Strafmaßnahmen nennt,  gehen sollte. Ein Restbestand an Handel und Wandel sollte bestehen bleiben. Wir befinden uns ja nicht im Kriegszustand mit Russland, sondern protestieren gegen seinen Krieg gegen die Ukraine. Zu radikale Sanktionsmaßnahmen, die auf ein Umdenken Putins zielen, können genau das Gegenteil bewirken, nämlich seine Bereitschaft, den Krieg gegen die Ukraine zu radikalisieren und ihn sogar  weiterzuentwickeln in Richtung auf eine Konfrontation mit der NATO. Das Verhalten des Westens gegenüber seiner unverantwortlichen Aggression gegen die Ukraine kann nicht soweit gehen, dass man Putin zwingt, seinen Ukraine-Krieg sich zur Konfrontation mit der NATO ausweiten zu lassen. Man sollte auch im Westen bedenken, dass Sanktionsmaßnahmen als Strafmaßnahmen bisher in der Geschichte selten Schritte zu einem besseren Frieden gewesen sind. 

9. Wie der Krieg auch ausgehen mag, in der Nachkriegszeit muss eine neue europäische Sicherheitskonstruktion einschließlich Russlands versucht werden. Es müssen auf vielen Gebieten der Forschung, der Wirtschaft, des kulturellen Austausches engere Beziehungen angestrebt werden. Wir unsererseits müssen uns verstärkt für ein stärker an Europa gebundenes  Russland einsetzen.  Die konsequent organisierte Isolation Russlands würde einen neuen kalten Krieg mit all seinen friedlosen Folgen bringen. Der Prozess der Wiederannäherung des Westens an Russland  und Russlands möglicher Kurswechsel hin auf eine vereinbarte europäische Lösung in Politik, Wirtschaft und Kultur dürfte ein sehr schwieriger Prozess werden. Aber er ist die einzige Chance, für einen  stabileren Weltfrieden eine wichtige Voraussetzung zu schaffen.

Der Westen wird bei dem neuen Annäherungsprozess seine bisherige Russlandpolitik kritisch überprüfen und fragen müssen, wieweit er auf russische Forderungen eingehen kann, ohne seine prinzipiellen Positionen aufzugeben. Aber ohne Kompromisse wird es nicht abgehen. Es kann am neuen Verhandlungstisch keine Sieger geben. Bei der Suche nach neuen haltbareren Kompromissen müssen beide Seiten bereit sein, ihre manchmal bekenntnishaften dogmatischen Positionen und das traditionelle Freund-Feind-Denken auf ein Minimum zu reduzieren. Ganz wird das in Jahrhunderten angesammelte Misstrauen nicht verschwinden, aber es können der Wille und die Praxis konstruktiver Friedenspolitik überwiegen, wenn man die Welt nicht in eine Katastrophe bringen will. 

10. Ohne unter die Schwärmer gehen zu können, die an eine Atomwaffen freie und deshalb friedlichere Welt glauben, so wird die kommende weltpolitische Aufgabe sein, die nicht ohne die Großmächte zu verwirklichen ist, das konventionelle wie atomare Zerstörungspotential nach und nach zu reduzieren und das Entscheidende: politisch keinen Anlass zu bieten, es in einem Krieg zu aktivieren. Man wird auf beiden Seiten politisch gegen seine eigenen militärischen Möglichkeiten entscheiden müssen, um nicht die Erde zur Hölle werden zu lassen. Das dürfte für die traditionellen Eliten im Staatsdienst, für militärische Führungskräfte, für ökonomische Profiteure und für die ewigen zivilen Russlandfeinde nicht einfach sein. Aber wir kommen um der Zukunft der Welt nicht darum herum, uns mit sachlicher Leidenschaft ein neues „Weltethos“ zu erarbeiten. Schaffen wir diesen Prozess der Änderung des traditionellen Denkens nicht, so ist es nur eine Frage der Zeit, wann die Erde zur Hölle wird und ins Chaotische versinkt.