Das Unrecht, das dem Vorsitzenden des Bundes der Religiösen Sozialisten, Pfarrer Erwin Eckert (1893-1972) angetan wurde

Eine etwas andere Rezension als Beitrag zur Geschichte der Weimarer Republik und Deutschlands unter nationalsozialistischer Diktatur – Von Reinhard Gaede

Friedrich-Martin Balzer: Berufsverbot in der Kirche. Der unerledigte Fall Erwin Eckert. Köln 2023, 292 Seiten, 20,– €

Was ist Auftrag der Kirche? Was sind ihre Kennzeichen? Nach der Bibel, der Urkunde ihrer Gründung, kurz gefasst in Apostelgeschichte 2,42-47, 4,32-35: Verkündigung  der Liebe Gottes, Diakonie als helfender Dienst, brüderliche und schwesterliche Gemeinschaft. Wieso kann es dann ein Berufsverbot für einen ihrer Amtsträger geben, der seinem Auftrag nachkommt? Das wäre ein Widerspruch in sich, ja ein Skandal! Dass es ein solches Berufsverbot tatsächlich gegeben hat, daran erinnert Friedrich-Martin Balzer und berichtet umfassend über Leben und Schicksal  von Erwin Eckert (1893-1972), Mitbegründer des Bundes der religiösen Sozialisten Deutschlands (BRSD).

Balzer führt uns damit zurück an den Wendepunkt von der Demokratie zur Diktatur, vom Ende der Weimarer Republik zum Beginn der Diktatur unter dem Faschismus mit der Folge der massenhaften Vernichtung der Juden, Sinti und Roma und der Verfolgung oder Ermordung von vielen Personen der  demokratischen Opposition. Dass  E. Eckerts Warnungen nicht nur missachtet, sondern er außerdem „aus dem Kirchendienst entlassen“  wurde, Einkommen, Ruhegehalt und Hinterbliebenen-Versorgung verlor und ihm Amtshandlungen verboten wurden, ist das beispiellose Unrecht, das den Pfarrer traf, der doch Kirche und Gesellschaft vor dem kommenden Urteil bewahren wollte. Zugleich deckt das Buch die Schuld der Mehrheit  kirchlichen Amtsträger auf, die ihren Auftrag und ihre Sendung verraten haben, als sie den Nazis den Weg bereiteten und den Widerspruch und den Widerstand E. Eckerts unterdrückten.

„Unerledigt“ ist der Fall Erwin Eckert, weil das Urteil des badischen Oberkirchenrats und Dienstgerichts vom 11.12.1931 bisher nicht in formaler Wideraufnahme des Verfahrens von der badischen Synode aufgehoben, eine „Entschädigung für 40 Jahre entgangener Altersversorgung“ nicht gezahlt worden ist. Eine Erklärung der Präsidentin der badischen Landessynode und des Landesbischofs im April 1999, die bedauerte, dass „Bruder“ Eckert“ „unehrenhaft“ aus dem Pfarrdienst entlassen, „parteiisch“ behandelt und eine „prophetische Stimme unterdrückt“ wurde, hat als ungenügend zu gelten. Auch ist die zweite Schuld nicht gesühnt, dass E. Eckert nach 1945 nicht wieder in sein Amt eingesetzt wurde, während seine Gegner, deutsch-christliche und NSDAP-Pfarrer, die ihn verurteilt hatten, im Amt belassen wurden.

Nach 1945 konnte E. Eckert bei der Bildung der Demokratie mitwirken. Z.B. war er von März 1946-1950 Erster Vorsitzender der KP Badens, April 1946 Staatsrat der provisorischen Regierung Südbadens für besondere Aufgaben und Entnazifisierungskommissar, 1947-1952 Abgeordneter des badischen Landtags und 1952-1956 des baden-württembergischen Landtags. Ehrungen erfuhr er vom Friedensrat der DDR, von der Weltfriedensbewegung gegen Atombewaffnung (1950) und vom Weltfriedensrat (1959). Er erhielt 1964 die  Carl-von-Ossietzky-Medaille für Verdienste im Kampf gegen den deutschen Militarismus, gegen Faschismus und Krieg, 1959  die Goldene Friedensmedaille durch den Weltfriedensrat, 1971 die Lenin-Gedächtnis­medaille durch die DKP.

Aber das Verbot der KPD im Jahr 1956 begrenzte natürlich seinen Einfluss. Wegen „Rädelsführerschaft in einer verfassungsfeindlichen Organisation“  wurde er im April 1960 „zu neun Monaten Gefängnis auf Bewährung“ verurteilt. Ein neues Unrecht, jetzt im restaurativen Deutschland.
Unerledigt ist also die völlige Rehabilitierung E. Eckerts. Deshalb fordert F.-M. Balzer die Gründung einer „Erwin-Eckert-Stiftung“, die sich „insbesondere mit dem Lebenswerk des Ausgestoßenen beschäftigt“. (S. 207)

F.-M. Balzer, der den Nachlass von E. Eckert verwaltet, hat nicht nur Hintergründe des Falles Eckert aufgedeckt, sondern zugleich ein Bild des Protestantismus am Ende der Weimarer Republik  gezeichnet als eines „Sammelbeckens für antidemokratische Kräfte“.
Im ersten Teil des Buches befasst sich Balzer in drei Abschnitten mit dem politisch-historischen Hintergrund (Kapitel I), den theologischen und rechtlichen Gründen für die Wiederaufnahme des Dienststrafverfahrens von 1931 (Kapitel II) und sieht Erwin Eckert zugleich als „Reformator und Revolutionär“ (Kapitel III). 1931 gilt als Jahr der Entscheidung. Erwin Eckert hält Reden, „Christuskreuz, nicht Hakenkreuz“ am 16. Januar im  Mannheimer Musensaal, am 23. Januar „Faschismus, eine Gefahr für die Arbeiterschaft“ in Pforzheim. Er bemühte sich, eine Einheitsfront von SPD und KPD gegen die NSDAP zu bilden. Der  erfolgreichste Redner gegen den Faschismus in Süddeutschland und Wortführer der Linken in der SPD („Klassenkampf-Gruppe)“ bekam aber Konflikte in seiner Partei und  wurde nach 20jähriger Mitgliedschaft aus der SPD ausgeschlossen. (2.10.1931). Am 3. Oktober 1931 trat Eckert der KPD bei.
Innerhalb des Bundes der religiösen Sozialisten führte diese Entscheidung zu Konflikten, weil SPD und KPD politische Gegner waren. Im  BRSD waren „die meisten Angehörigen des Bundes Mitglieder der SPD, darunter auch solche, die seit den Septemberwahlen 1930 die sich immer stärker profilierende Linie des Bundesvorsitzenden von der SPD ‚Opposition, nicht Koalition’ unterstützten. Doch standen in seinen Reihen auch rechtsstehende, zur Koalitionspolitik geneigte Genossen, aber auch neben ausgesprochenen Parteikommunisten eine ganze Reihe Mitglieder, die der kommunistischen Einstellung sehr nahe stehen.“ (S.29) F.-M. Balzer verweist zu den Hintergründen  des Austritts von Erwin Eckert aus dem Bund der religiösen Sozialisten auf sein (zusammen mit Manfred Weißbecker) herausgegebenes  Buch: Erwin Eckert, Emil Fuchs: “Blick in den Abgrund. Das Ende der Weimarer Republik im Spiegel zeitgenössischer Berichte und Interpretationen” (Bonn 2002). Dort sind  Stellungnahmen zur Unterstützung von Erwin Eckert und Kritik an seinem Übertritt zur KPD genau dargestellt (S. 559 ff.); auch der Hintergrund: „Spaltung der Arbeiterbewegung“ sowie die “dogmatisch verengte Sicht” bei SPD und KPD.  Interessant die Stimmen für ein „Einheitsfrontdenken”: Pfarrer Ludwig Simon: Gewiss sei der Übertritt Eckerts in die KPD “für die SPD ärgerlich”, “aber das geht uns – den Bund – nichts an”. Oder Pfarrer Fritz Honnecker, der für ein “Kampfkomitee  für Eckert” wirbt. Oder die Pfarrer Arthur Rackwitz und Paul Piechowski: Man solle verhüten, dass der Bund Eckert fallen ließe. “In unserm Bund müssen Sozialdemokraten und Kommunisten nebeneinander möglich sein.” Im BRSD kam es jedoch zu einer „Entmachtung“ mit dem Verlust der Geschäftsstellenleitung und des stellvertretenden Bundesvorsitzes  trotz angebotenen Verzichts auf bisherigen Einfluss, dass er nicht mehr alleiniger Schriftleiter sein konnte und nur noch einen Sitz im Bundesvorstand hatte. Der Verlust seines zur KPD übergetretenen Bundesvorsitzenden änderte nichts an der historischen Rolle des BRSD: Im „Sonntagsblatt des arbeitenden Volkes“ (Organ des BRSD) finden sich in jeder Nummer Warnungen vor Militarismus und Faschismus. Der BRSD hat seit seiner Gründung (1919 als Gruppe in Berlin, 1924 als Arbeitsgemeinschaft, 1926 als Bund in Deutschland) als einzige geschlossene Organisation aus religiösen und politischen Gründen  den Faschismus bekämpft.
Wichtig für die Geschichte der Weimarer Republik ist der Abschnitt „Politische Justiz  und Kirchliches Justizunrecht“: „Nach 1918 wurden keine monarchistischen oder republikfeindlichen Richter entlassen. Auch während der Stabilisierungsphase der Weimarer Republik (1924-1928) blieb die übergroße Anzahl der Richter auf Distanz zur neuen Staatsform. Im Deutschen Richterbund waren 1930 8.000 Richter organisiert, während der Republikanische Richterbund nur 300 Mitglieder aufzuweisen hatte.“ (S.33) „’Eine Justiz, die selbst rechts stand, musste’, so der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, ’notwendig blind sein gegenüber einer Bedrohung der Republik, die von rechts kam. Sie selbst war ein Teil dieser Bedrohung.’“ (S. 37) Oberkirchenrat Otto Friedrich, „treibende Kraft in allen Strafprozessen gegen Eckert“ erhielt von der juristischen Fakultät Heidelberg 1932 die Ehrendoktorwürde. (S. 195)  Er betrieb auch die Zwangspensionierung von (sc. Heinz) Kappes, weil dieser sich gegen die ‚deutsche Freiheitsbewegung’ <gemeint ist die NSDAP> gewandt habe.“ (S.196)
Kapitel I enthält Exkurse: „Gotteslästerung? Der Fall Grosz“, (sc. Bild Christus am Kreuz mit Gasmaske, „Maul halten und Weiterdienen“), ,, Führer-Eid und Kriegsdienstverweigerer“ (sc. Martin Gauger, Verweigerer des Eids), „Röhm-Putsch-Kühlewein oder Eckert? (sc. Die Niederschlagung des Röhm-Putsches“, nämlich „Ermordung von 200 SA-Offizieren und ca. 1.000 (!) mutmaßlichen“ Regimegegnern). Landesbischof Julius Kühlewein hatte die Wiederherstellung der völligen „Ordnung“ begrüßt. Walter Künneth hatte zwar als deutschnationaler Theologe sich mit dem Nazi-Ideologen Alfred Rosenberg auseinandergesetzt, aber einen christlichen Antijudaismus propagiert und das „Dritte Reich“ enthusiastisch unterstützt; nachträglich mystifizierte er es als großen „Abfall vom Christentum“.
Kapitel III erklärt noch einmal, „Warum Eckert in die KPD eintrat?“ Er hatte bürgerliche Parteien, die SPD und die Kirche kritisiert, weil sie „die Demokratie nicht entschieden gegen die aufziehende Barbarei verteidigten.“ (S. 173), hatte aber auch die KPD gewarnt „Das Gefährlichste für die proletarische Bewegung ist, in Selbstüberschätzung die Macht der gegnerischen Kräfte zu unterschätzen.“ (S. 174) Während die SPD die Brüning-Regierung stützen wollte, weil sie glaubte, so Hitler bekämpfen zu können, ihre Rolle wie ein „Arzt am Krankenbett des Kapitalismus “ (Fritz Tarnow) verstand, wollte Eckert bei der KPD helfen, „die Kinder zu sättigen, die hungern, die Frauen zu unterstützen, die krank sind, als da, wo es sich darum handelt, die Leidenden zum Licht, die Unterdrückten durch Kampf zum Sieg zu führen.“ (S. 176)

Während der Nazi-Diktatur wurde ihr bekannter Gegner am 13. Juni 1936 verhaftet und verbrachte „drei Monate verschärfte Einzelhaft im Einzeldrahtkäfig im berüchtigten Gestapo-Gefängnis Klapperfeld in Frankfurt.“(S. 72) „Am 9. Oktober 1936 wurde Eckert  wegen ‚Vorbereitung zum Hochverrat’ vom Volksgerichtshof in Kassel zu drei Jahren und acht Monaten Zuchthaus verurteilt“ ohne Anrechnung der Untersuchungshaft. Die Haftkosten im Zuchthaus musste er selbst übernehmen. (S.73) Wegen Krankheit wurde er am 9. März 1940 entlassen. „Schließlich findet Eckert am 3.1.1941 Anstellung in einem Metall-Betrieb zuerst in Frankfurt, dann im Bodenseegebiet und schließlich in Oberwihl, wo er als Prokurist sich unter Polizeiaufsicht für die dort beschäftigten Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen einsetzt und mit ausgesuchten Häftlingen die mit Todesstrafe sanktionierten ‚Feind’-Sender hört.“ (S.75)
Im Abschnitt „Die Situation nach 1945“ erfahren wir, wie Eckert über die Erklärung von Künneth u.a. urteilt, der Faschismus sei siegreich gewesen, weil  das deutsche Volk vom christlichen Glauben abgefallen sei. „Wenn es der christlichen Kirche ernst gewesen wäre mit ihrem Kampf gegen den Faschismus, hätten alle Pfarrer, Priester, Erzbischöfe und der Papst sich entschlossen gegen diese Pest wenden müssen, bevor sie zur Macht kam. Sie haben es aber nicht nur nicht getan, sondern es ist Tatsache, dass die christlichen Kirchen in Hitler den Retter der abendländischen Kultur und des Christentums sahen.“ (S.178) 18 Jahre nach seiner Amtsenthebung habe sich nichts geändert: „Die nationalsozialistischen Pfarrer aber sitzen heute noch im Amt.“ (S.179)  Das unbußfertige Verhalten der Kirche, ihre Weigerung, ihre falsche Lehre von damals zu verwerfen, findet ihre Parallele bei Politikern wie Hans Filbinger (1966-1978 Ministerpräsident von Baden-Württemberg), der als Marine-Richter 1943 und 1945 noch vier Todesurteile gefällt hatte und im August 1978 zurücktreten musste, nachdem er erklärt hatte: „Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein.“ (S. 200)

Das Buch enthält einen umfangreichen Anhang (S. 210-283): Die Barmer Theologische Erklärung von 1934, das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945, das Darmstädter Wort von 1947 mit dem Kommentar von Günter Brakelmann, die sieben Sätze des Weißenseer Arbeitskreises: „Von der Freiheit der Kirche zum Dienen“ (1963), das Gutachten von Hanfried Müller „über die Frage, ob die politische Mitarbeit in einer atheistischen politischen Partei eine kirchliche Tätigkeit grundsätzlich ausschließe“, das theologische „Gutachten zur Frage der Vereinbarung von kirchlichem Amt und Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei“ von Hermann Schulz. Nach den Irrtümern der Vergangenheit setzen diese Erklärungen neue Maßstäbe für das Verhältnis von Kirche und Staat und für die Beurteilung des Berufsverbots von Erwin Eckert.
Günter Brakelmann hat die These 2 des Darmstädter Wortes, die den „Traum einer besonderen deutschen Sendung“ als Irrweg verurteilt, kommentiert: Der nationalistische Militarismus, der sich „religiös begründet und geschichtstheologisch legitimiert“, hat seine Wurzeln in theologischen Aussagen während des Ersten Weltkriegs und schon in der politisch-ethischen Literatur, die sich gegen „die Prinzipien von 1789“ der französischen Revolution wendet, in „Liaison der Predigenden und Herrschenden“. (S. 228) „Im Sinne Darmstadts muss man sagen, dass es das Blut der Opfer ist, das unsere Kirche, ihre Verkündigung und ihre Theologie anklagt.“ S. 230)

Kapitel II enthält auch Gutachten von Hanfried Müller und Herrmann Schulz zum „Fall Rolf Trommershäuser“, der als Pfarrvikar und DKP-Mitglied in der hessischen Kirche von Entlassung bedroht war. Dass eine politische Mitarbeit von Pfarrern in einer kommunistischen Partei trotz deren atheistischer Weltanschauung mit christlichem Bekenntnis vereinbar ist, wird theologisch begründet.

Am Schluss stehen die Dokumente von Eduard Dietz: Antrag auf Freisprechung im Dienststrafverfahren gegen den Pfarrer Erwin Eckert vom 3. Dezember 1931, Das Urteil im Kirchlichen Dienststrafverfahren gegen den Pfarrer Erwin Eckert vom 11. Dezember 1931, eine Kurzbiographie Erwin Eckert, Vita des Herausgebers, eine Danksagung und ein Personenregister.

2022 jährte sich Erwin Eckerts 50. Todestag. Daher ist F.-M. Balzers neues Buch ein aktueller Rückblick auf ein Leben im Streiten für Gerechtigkeit in der Gesellschaft, für Frieden zwischen Völkern und zur Verteidigung der Menschrechte unter fast unglaublichen persönlichen Opfern.
Der Historiker F. M. Balzer hat sich leidenschaftlich und unermüdlich diesem Gedenken eines  mutigen Theologen und Politikers gewidmet, und uns zugleich einen nachhaltigen Beitrag zur Geschichte der Weimarer Republik und Deutschlands unter nationalsozialistischer Diktatur übergeben. Eine bedeutende Anregung für unsere Erinnerungskultur gemäß dem Merkspruch von Ernst Bloch „Nur jenes Erinnern ist fruchtbar, das zugleich erinnert, was noch zu tun ist.“

Rezension