Teil IV – Handlungsoptionen und die Frage nach Alternativen
Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar
5. Handlungsoptionen und die Frage nach Alternativen
Das Ökumenische Netz Rhein-Mosel-Saar hat seit seiner Gründung versucht, die Probleme und Katastrophen, unter denen Menschen leiden, im Zusammenhang mit der vom Kapitalismus konstituierten gesellschaftlichen Totalität zu reflektieren und dies in soziale Bewegungen und Kampagnen einzubringen. Dieser Weg war und ist von Marginalisierung begleitet: gesellschaftlich, kirchlich, bewegungspolitisch. Dies dementiert jedoch nicht die gewonnenen Erkenntnisse und die Einsicht, dass nur dann eine Überlebensperspektive zu gewinnen ist, wenn der kapitalistische Formzusammenhang und die mit ihm verbundene in eine gesellschaftliche Katastrophe einmündende Krise in ihren unterschiedlichen Ausdrucksformen erkannt werden.
Wir werden uns dafür einsetzen, dass sich die realistische Erkenntnis durchsetzen kann, dass im Rahmen eines Systems von Wert und Abspaltung, von Geld/Kapital und Arbeit, Markt und staatlicher Regulierung und auf der Grundlage der bürgerlichen Subjektform der weitere Weg in die Katastrophe vorprogrammiert ist. Zu kritisieren sind also alle Reform- und vermeintlichen Alternativvorschläge, die sich im Rahmen der unkritisierten kapitalistischen Kategorien bewegen. Ohne Durchgang durch das ‚Purgatorium‘radikaler Kritik werden Alternativen dadurch kreiert, dass Facetten aus dem Ganzen der Verhältnisse herausgebrochen werden und ihnen eine andere Funktion zugewiesen wird. Auf einmal soll Geld dienen statt als Fetisch die kapitalistische Gesellschaft unter den Zwang der irrationalen Vermehrung des Kapitals um seiner selbst willen zu stellen. So bleibt es bei Regiogeld, bei Tauschringen und Umsonstläden, bei Grundeinkommen auf Elendsniveau, bei solidarischer und Gemeinwohl-Ökonomie, also bei vermeintlichen Alternativen, die nicht an die bestimmenden Formen der fetischisierten kapitalistischen Verhältnisse rühren. Nicht weniger problematisch sind die immer neuen Rufe nach politischer Regulierung, von der Rückkehr nach den Regulierungen des Sozialstaats bis hin zur Regulierung der Finanzmärkte, weil sie die Illusion voraussetzen, es sei eine Rückkehr zu einer Wertschöpfung möglich, auf deren Grundlage sich der Kapitalismus regulierenließe.
Alternativen sind möglich, aber nicht im Rahmen der kapitalistischen Vergesellschaftung. Sie werden erst denkbar, wenn die sie konstituierenden Formen konsequent verneint werden. Der Versuch, Alternativen zu denken, kann anknüpfen an den Widerspruch von Stoff und Form, also an den irrationalen Zwang, stofflichen Reichtum in abstrakten Reichtum, d.h. in die Geldform zu verwandeln und darin zu vernichten. An einzelnen kapitalistischen Widersprüchen könnten transnationale Bewegungen zur Überwindung des global gewordenen Kapitalismus deutlich machen, woran anzusetzen wäre: am Finanzierungsvorbehalt gegenüber Gesundheit und Wohnraum, dem Wegwerfen von ausreichend produzierten Lebensmitteln, der ökologischen Unmöglichkeit von exorbitantem Individual- und Flugverkehr u.v.m.
Am Beispiel Nahrungsmittel kann deutlich werden, worum es geht: Aktuell wird – allerdings mit für Mensch, Tier und Umwelt teilweise verheerenden Auswirkungen – genug Nahrung für 12 Mrd. Menschen hergestellt, während über 1 Mrd. von insgesamt über 7 Mrd. Erdbewohner*innen täglich hungern. Das, was nicht verkauft – also nicht in Geld als Ausdruck abstrakten Reichtums zurückverwandelt – werden kann, wird vernichtet. Eine entscheidende Frage für soziale Bewegungen und alle ‚Menschen guten Willens‘ wäre dann: Wie könnte unter menschlichen und umweltschonenden Bedingungen außerhalb der kapitalistisch-patriarchalen Formen – also ohne den Zwang, den stofflichen Reichtum in abstrakten Reichtum zu verwandeln – so produziert werden, dass alle Menschen auf gesunde Weise sattwerden und ihre materielle und soziale Existenz gesichert wäre? Theoretisch formuliert: Befreit vom Zwang des abstrakten Reichtums wäre es möglich, auf der Grundlage von stofflichem Reichtum und dem erreichten Niveau der Produktivkräfte für menschliche Bedürfnisse zu produzieren. Die Produktion könnte reduziert und umweltschonender organisiert werden. Produktion und Verteilung wären nicht mehr abhängig von der Unterwerfung unter den irrationalen Fetischzusammenhang der Vermehrung des Kapitalsum seiner selbst willen, sondern könnten ‚nachhaltig’, transparent und von Menschen vereinbart institutionell gestaltet werden.
Auf dem Weg zur Überwindung des Kapitalismus ist es wichtig, dass sich Menschen gegen die Zumutungen des Kapitalismus wehren und deutlich machen, dass sie nicht bereit sind, diese hinzunehmen. Damit kann deutlich werden, dass Menschen dem Kapitalismus ihre Loyalität aufkündigen. Das schließt durchaus entsprechende (immanente) sozial-ökologische politische Forderungen ein. Es macht Sinn, sie auch dann zu stellen, wenn ihre Erfüllung im Kapitalismus unwahrscheinlich ist. Durch die berühmte Frage nach ihrer Finanzierbarkeit sind sie nicht widerlegt. Wenn wichtige soziale, ökologische und politische Forderungen auf die Grenzen realpolitischer Erfüllbarkeit stoßen, gilt es dennoch darauf zu bestehen und deutlich zu machen, dass dies nicht gegen die Forderungen spricht, sondern gegen ein System, das sie offensichtlich nicht erfüllen kann. Genau dies delegitimiert das kapitalistisch-patriarchale System, das immer mehr auf seine inneren logischen und äußeren ökologischen Grenzen stößt. Diese Grenzen dürfen aber kein Grund dafür sein, Menschen die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse vorzuenthalten und sie den Gegebenheiten der Krise immer weiter anzupassen, sondern dafür, auf Überwindung des Systems zu drängen.
In den ‚Blütezeiten‘ des fordistischen Kapitalismus standen Bemühungen um die Verbesserung bzw. Humanisierung der Lebensverhältnisse zuweilen unter dem Verdacht, den Kapitalismus gesund pflegen und damit erhalten zu wollen. Inzwischen ist deutlich geworden, dass sich der Kapitalismus auch nicht durch die beste Pflege erhalten und sich durch keine Reformen stabilisieren lässt.Angesichts barbarischer werdender Verhältnisse istauch humanitäres bzw. samaritanisches Handeln eine wesentliche Aufgabe. Trotz der desillusionierenden Einsicht, dass humanitäre Verbesserungen die Verhältnisse nicht überwinden können, bleibt die Herausforderung, unter die Räuber Gefallene (Lk 10,29-37) aufzurichten. Sie gilt auch dann, wenn angesichts der sich verschärfenden Krisenprozesse alles humanitäre Handeln mit den sich ausbreitenden Katastrophen nicht mehr mithalten kann.
Mit diesem Text wollen wir eine breitere Diskussion über Schwierigkeiten und Plausibilität unserer Kapitalismuskritik ermöglichen. Wesentliche Einsichten verdanken wir der von Robert Kurz und Roswitha Scholz weiterentwickelten Kritischen Theorie als Kritik des Werts und der Abspaltung der reproduktiven Bereiche. Theologisch knüpfen wir in kritischer Reflexion an die Neue Politische Theologie um Johann Baptist Metz an. Ohne uns neuen Erkenntnissen zu verschließen, diskutieren wir dabei auf der Grundlage der Erkenntnisse, die wir in diesem Text formuliert haben. Sie haben uns zu der Überzeugung geführt, dass der Bann kapitalistischer Herrschaft nur gebrochen werden kann, wenn das ‚Ganze‘ der kapitalistischen Veranstaltung in seinen ökonomischen, politischen, ideologischen und sozialpsychologischen Aspekten in kritischer Reflexion in Frage gestellt und negiert wird. Denn nur so gibt es eine Chance, die abstrakte Herrschaft des von Menschen geschaffenen und fetischisierten patriarchalen Kapitalismus mit seiner alles zerstörenden Dynamik zu überwinden. Nur in einem radikalen Bruch mit dem Ganzen der patriarchal-kapitalistischen Verhältnisse können Wege zu einer Gesellschaft gefunden werden, in der menschliche Bedürfnisse ihre Befriedigung finden, die Schöpfung bewahrt und Strukturen des Zusammenlebens transparent gestaltet werden können.