ZUKUNFT DURCH WANDEL? – WIR SCHAFFEN DAS! Oder: Wie sich die Erinnerungsarbeit in unserer Gesellschaft positionieren kann-abseits oder unter Zuhilfenahme von Schlagworten?
Bericht des Sprechers der LAG Erinnerungsarbeit des Saarlandes Frank-Matthias Hofmann
Bild: Wien – Demo Flüchtlinge willkommen – Transparent der Plattform für eine menschliche Asylpolitik
© Haeferl
Von Aufbrüchen und Abbrüchen -Mentalitätswechsel von 2015 zu 2025
Es gibt Schlagworte, die oftmals zum „Wort des Jahres“ gewählt werden. Manche erhalten gar ikonischen Charakter. Aber es gibt auch Unworte des Jahres. So wurde vor zehn Jahren, 2015, das Wort „Gutmensch“ zum Unwort des Jahres gewählt: Es beinhaltet eine ironische Abwertung von Menschen, die sich für andere einsetzen. Das Wort zeigt aber auch für mich, dass gesellschaftlich etwas in Schieflage geraten war: Engagement und Mitgefühl wurden verdächtigt. 2025 blicken wir zurück auf einen Sommer, der vieles verändert hat. Als Angela Merkel sagte „Wir schaffen das!“ setzte sie damit ein Signal, das über Parteigrenzen hinauswirkte. Es schien möglich, dass Mitmenschlichkeit und politischer Gestaltungswille zusammenfinden. Was ist aus diesem Aufbruch geworden?
Heute distanzieren sich manche ihrer Parteifreunde von ihr und diesem Wort und dem, was es beinhaltete, versuchen sich damit zu profilieren, um der AfD und anderen rechten Konsorten das Wasser abzugraben, manchmal auch, indem sie denen die Vokabeln klauen und selbst rechtslastige Äußerungen von sich geben. Ein Irrweg wie ich meine. Das Bild vom menschenfreundlichen Deutschland, das wir in der Erinnerungsarbeit maßgeblich in den letzten Jahrzehnten mitgeprägt haben (und das meine ich wirklich!), hängt schief. Auch wir haben etwas in der Aufarbeitung von Unrecht an NS-Opfern und Einladungen bis heute etwa von Nachfahren ukrainischer, weißrussischer und russischer Zwangsarbeitenden mitgeholfen, den Boden zu bereiten für ein Land, das seine eigene braune Geschichte aufzuarbeiten bereit ist und auch Konsequenzen daraus zu ziehen vermag. Politische Bildung für die Gegenwart ist immer wichtig gewesen und wird es auch bleiben. Heute fragen wir nicht mehr, wie Integration gelingt, sondern wie sich Migration begrenzen lässt. Wir bauen Mauern und ziehen Zäune hoch. Dabei wissen wir in der Erinnerungsarbeit doch, dass Flucht und Vertreibung schlimme Folgen von Kriegen sind und man den von Diktatoren Verfolgten und von Vernichtung bedrohten Menschen solidarisch zur Seite stehen muss. Gewiss kann und darf man über Möglichkeiten zur Begrenzung von Migration sprechen, ohne dass wir dies tabuisieren oder vorhandene Probleme bei der Integration verschweigen. Das spielt wieder nur den Rechten in die Hände. Aber dass aus dem Sommer des Willkommens ein endloser Winter der Abwehr geworden ist, damit können wir uns nicht abfinden.
Was alles geht, wenn man will
2015 hat gezeigt, was eine Zivilgesellschaft leisten kann, wenn ein gemeinsamer Geist einem treibt, was Verwaltungen, Sozialverbände, NGOs und Kirchen in gemeinsamer Anstrengung leisten können. Für mich ist das nach wie vor maßgeblich, bei allen Problemen, die auch mit daher gehen, was Angela Merkel 2015 gesagt hat: “Deutschland ist ein starkes Land. Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge herangehen, muss sein: Wir haben so vieles geschafft. Wir das schaffen das! Wir schaffen das – und dort, wo etwas im Wege steht, muss es überwunden werden, muss daran gearbeitet werden.“
Das war auch eine Bekenntnisentscheidung, die viele mitgezogen hat. Diese Form der Gegensteuerung und Selbstermächtigung war und ist richtig, nämlich dass uns Krieg, Verfolgung und Flucht nicht emotions- und tatenlos zusehen lassen, sondern dass wir aufgrund unserer eigenen Geschichte uns selbst stärken mit einem Bekenntnis zur Mitmenschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit, auch für die, die zu uns kommen. Es kann uns im der Erinnerungsarbeit auch nicht kalt lassen, dass aus dem Sommer der Großherzigkeit winterliche Kälte wurde, Gleichgültigkeit, Angst, ja gar Hass. Und vielleicht hätte man ergänzen müssen, damals 2015, „Ja, wir schaffen das, aber es wird den mühsamen Weg, lange und mit manchen Enttäuschungen. Es wird steinig und dornig, manches wird wehtun und manchmal werden wir denken: Hätten wir ihn doch nicht gegangen. Und doch ist es der richtige Weg.“
Die ältere Generation, die noch Krieg, Ausgrenzung und Verfolgung aus unmittelbarem Erleben kannte und meine Generation mit ihren Erzählungen als Sekundärzeuginnen geprägt hat, tritt ab. Wenn eine Willkommenskultur umkippt in eine „Bleibt-uns-vom-Hals-Stimmung“, dann ist in unserer Gesellschaft insgesamt etwas gekippt. Plötzlich sahen wir als jüngere Generation die Folgen von Krieg, Gewaltherrschaft und Not nicht mehr nur im Fernsehen, sondern vor unserer Haustür. So gewannen Angsterzählungen an Macht und auch die Narrative der Rassisten und Verschwörungserzähler, dass der große Bevölkerungsaustausch im Gange sei, mit dem die Regierenden sich ein ihnen genehmes Staatsvolk züchten wollten. Feindschaft gegen Fremde, gegen das Fremde kamen wieder hoch. Stereotype Reflexe, die wir aus der Erinnerungsarbeit nur allzu gut kennen und die wir auch in diesem Kontext bekämpfen müssen. Papst Franziskus hat nicht zu Unrecht gefordert, die Globalisierung der Gleichgültigkeit zu durchbrechen und wieder empathischer zu werden. In der Erinnerungsarbeit bedeutet Kampf gegen rechts nicht unbeteiligt problematischen gesellschaftlichem Entwicklungen gegenüber zu bleiben, sondern sich aktiv in das Engagement gegen Gleichgültigkeit, fake news und Unmenschlichkeit einzubringen.
Was bedeutet nun, diesen Satz „Wir schaffen das!“, der aus diesem Kontext entstanden ist, auf unsere Fragestellungen in der Erinnerungsarbeit hin zu übertragen?
Er bekommt in der deutschen Erinnerungsarbeit an die NS-Zeit besondere Deutungen:
Übertragen auf die Erinnerungsarbeitbedeutet er: Die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen ist eine dauerhafte gesellschaftliche Aufgabe, die Kraft, Mut und Ausdauer verlangt. „Wir schaffen das“ kann hier heißen:
• Wir schaffen es, das Erinnern lebendig zu halten, auch wenn Zeitzeug:innen sterben.
• Wir schaffen es, Verantwortung zu übernehmen, uns gegen Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Geschichtsvergessenheit zu stellen (vgl. die neuesten Entwicklungen zur Änderung der Saar-Verfassung)
• Wir schaffen es, die Lehren aus der Vergangenheit in die demokratische Gegenwart zu übersetzen.
Kombinieren wir einmal auch in unserem Zusammenhang die Selbstertüchtigung „Wir schaffen das!““ mit der Formel, die das Saarland sich für seinen Bundesratspräsidentinnnenschaft und den 3.Oktober ausgesucht hat: „Zukunft durch Wandel“: Gibt es also eine Zukunft durch Wandel und schaffen wir das?
Dann weist diese Formel verweist auf die Notwendigkeit, Erinnerungskultur dynamisch zu gestalten. „Wandel“ kann in diesem Zusammenhang heißen: Formen des Gedenkens verändern sich – von Zeitzeugenberichten hin zu digitalen Archiven, künstlerischen Projekten oder interaktiven Bildungsangeboten. „Zukunft“ bedeutet: Nur wenn Erinnerungskultur sich anpasst, bleibt sie gesellschaftlich relevant und wirksam.
In Bezug auf die NS-Verbrechen meint das:
• Gedenken darf nicht museal erstarren, sondern muss kritisch, kreativ und anschlussfähig für junge Generationen bleiben.
• Durch den Wandel im Erinnern wird eine demokratische, menschenrechtsorientierte Zukunft möglich.
Wenn wir also diese beiden Formeln zusammendenken, können wir auch das für unsere Erinnerungsarbeit fruchtbar machen.
„Wir schaffen das!“ steht für den Mut und das Bekenntnis, Verantwortung zu übernehmen.
„Zukunft durch Wandel“ betont die Fähigkeit, Erinnerungskultur immer wieder neu zu erfinden.
• Zusammen ergibt das für die deutsche Erinnerung an die nationalsozialistischen Verirrungen und faschistischen Untaten:
• Erinnerungsarbeit ist kein abgeschlossenes Projekt, sondern ein Prozess.
• Nur wenn wir bereit sind, Wandel anzunehmen, können wir die Erinnerung für die Zukunft fruchtbar machen.
• So entsteht eine demokratische Kultur des Erinnerns, die nicht nur bewahrt, sondern auch handlungsfähig macht.
Freilich wissen wir auch: Wenn man „Wir schaffen das!“ und „Zukunft durch Wandel“ in die deutsche Erinnerungsarbeit 2025 einbringen möchte, stößt man auf spürbare gesellschaftliche Widerstände – gerade in einer Zeit, in der rechte und rechtspopulistische Strömungen an Einfluss gewinnen. Ich skizziere die zentralen Hürden:
1. Erinnerungsmüdigkeit und Relativierung
• Viele Menschen empfinden die ständige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als „erschöpfend“ oder „Vergangenheitsfixierung“.
• Rechte Narrative verstärken dies, indem sie behaupten, man müsse „endlich einen Schlussstrich ziehen“.
• Herausforderung: Deutlich machen, dass Erinnerungsarbeit nicht Schuldvererbung, sondern Demokratiesicherung ist.
2. Instrumentalisierung durch rechte Kräfte
• Die extreme Rechte nutzt Gedenktage oder Symbole, um Umdeutungen vorzunehmen („Deutsche als Opfer“).
• Damit wird die historische Verantwortung verdreht.
• Widerstand: Erinnerungsarbeit muss aufklären, Falschinformationen entkräften und den Wert historischer Wahrheit betonen.
3. Polarisierung in der Gesellschaft
• Begriffe wie „Wir schaffen das“ sind stark politisiert (v. a. im Kontext von Migration).
• Wenn man sie in die Erinnerungskultur überträgt, könnte dies sofort als „politisch gefärbt“ oder „linke Ideologie“ abgelehnt werden.
Also gilt es, diese Begriffe in breite, überparteiliche Kontexte zu stellen– Demokratie, Verantwortung, Menschenrechte – um die Angreifbarkeit zu reduzieren.
4. Generationenwandel und Distanz zur Geschichte
• Die letzten Zeitzeug:innen sterben, jüngere Generationen haben keinen direkten Bezug mehr.
• Gefahr: Das Erinnern wird als museal oder „nicht mehr relevant“ wahrgenommen.
• Aufgabe: Neue Formate (digitale Projekte, Social Media, künstlerische Ansätze), die Zukunft durch Wandel ernst nehmen und junge Menschen emotional erreichen.
5. Gesellschaftliche Spaltung über Migration und Identität
• „Wir schaffen das“ wurde 2015 zur Projektionsfläche für Ängste vor dem Fremden.
• In der Erinnerungsarbeit kann dies auf Widerstand stoßen, wenn Migration, Holocaust-Erinnerung und heutiger Antisemitismus zusammengedacht werden. Aber genau das propagiere ich ja, wie ich ganz am Anfang meiner Rede zu zeigen versucht habe.
• Herausforderung: Brücken schlagen– Erinnerung nicht exklusiv „national“, sondern inklusiv und plural gestalten, sodass sich auch neue Bevölkerungsgruppen angesprochen fühlen.
6. Populistisches Misstrauen gegenüber Institutionen
• Museen, Gedenkstätten und Schulen gelten in rechten Diskursen als „staatlich gesteuerte Indoktrination“.
• Widerstand: Glaubwürdigkeit bewahren durch Transparenz, Beteiligung, multiperspektivische Zugänge.
Kurz gesagt:
Die Widerstände liegen im „Erinnerungsüberdruss“, der Politisierung der Begriffe, der rechtspopulistischen Umdeutung, der gesellschaftlichen Polarisierung und dem Generationenwandel.
Die Aufgabe ist, Erinnerung neu, inklusiv und zukunftsorientiert zu gestalten, ohne die historische Klarheit zu verlieren.
Das ist der Kern der gegenwärtigen Herausforderung: Wie lässt sich Erinnerungskultur so erneuern, dass sie sowohl historisch klar bleibt als auch junge Menschen in einer zunehmend polarisierten Gesellschaft erreicht?
Ein solcher Wandel könnte mehrere Ebenen umfassen:
1. Inhaltlicher Wandel
• Vom „Nie wieder“ zum „Jetzt handeln“:
Erinnerung nicht nur als Rückblick, sondern als Auftrag, gegen heutige Angriffe auf Menschenwürde und Demokratie aktiv zu werden.
• Universale Menschenrechte im Zentrum:
Die Shoah bleibt das singuläre Verbrechen, aber die Ableitung daraus ist universell: Schutz aller Minderheiten, Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Queerfeindlichkeit.
• Mehrperspektivisches Erzählen:
Ergänzung der Täter- und Opfergeschichte durch Stimmen von Jüd:innen, Sinti:zze und Rom:nja, Zwangsarbeiter:innen, politisch Verfolgten – und Brücken zur Gegenwart schlagen (z. B. Flucht, Ausgrenzung, Diskriminierung heute).
2. Didaktisch-methodischer Wandel
• Digitale Erinnerungskultur:
Virtuelle Gedenkstättenbesuche, AR/VR-Erlebnisse, interaktive Spiele, Podcasts und Social-Media-Formate, die niedrigschwellig Zugang ermöglichen.
• Partizipatives Lernen:
Jugendliche gestalten eigene Projekte (z. B. TikTok-Kampagnen, Stadtteilrundgänge, Theaterprojekte), statt nur passiv zu konsumieren.
• Storytelling statt Faktenballast:
Persönliche Geschichten, Biografien und Schicksale wirken nachhaltiger als abstrakte Zahlen.
3. Gesellschaftlich-politischer Wandel
• Erinnerung als Demokratiebildung:
Erinnerung wird nicht als „museale Pflichtübung“ verstanden, sondern als Grundlage demokratischer Resilienz gegen Populismus.
• Schulen und Gedenkstätten als „Safe Spaces“ für Dialog:
Räume, in denen junge Menschen ihre Fragen, auch ihre Skepsis, angstfrei äußern dürfen – um so eigene Zugänge zur Geschichte zu entwickeln.
• Diversität sichtbar machen:
Auch Jugendliche mit Migrationsgeschichte sollen sich in der Erinnerungskultur wiederfinden. NS-Verfolgungsgeschichten werden verbunden mit Fragen heutiger Zugehörigkeit.
4. Kulturell-ästhetischer Wandel
• Neue Ausdrucksformen:
Street Art, Musik, Gaming, digitale Kunst und Theater als Vehikel der Erinnerung.
• Künstlerische Interventionen im öffentlichen Raum:
Statt nur klassische Denkmäler: temporäre Installationen, Projektionen, interaktive Stationen, die zum Nachdenken anregen.
• Sprache der Gegenwart:
Weniger Pathos, mehr Alltagsnähe – damit junge Menschen nicht das Gefühl haben, man spreche „über“ sie, sondern „mit“ ihnen.
5. Praktische Leitidee für die Zukunft
„Erinnerung als Zukunftslabor“
• Vergangenheit wird nicht museal verwaltet, sondern als Ressource genutzt, um Gegenwart und Zukunft menschenwürdig zu gestalten.
• Der Dreiklang lautet: Erinnern – Verstehen – Handeln.
• Erinnern: Klarheit über die NS-Verbrechen und ihre Ursachen.
• Verstehen: Transfer in heutige Fragen von Ausgrenzung, Diskriminierung, Menschenrechten.
• Handeln: Jugendliche stärken, im Alltag gegen Vorurteile und Hetze einzustehen.
Damit wird die deutsche Erinnerungsarbeit nicht obsolet, sondern hochaktuell: Sie wird zu einem Werkzeug, um demokratische Resilienz in einer Gesellschaft zu sichern, die nach rechts driftet.