2023 – Ein Plädoyer für ein radikales Christentum
Ein neues Jahr 2023. Was wird es wohl bringen?
In Anbetracht der Krisen ist mehr denn je ein radikales Christentum nötig, das für die am Rand der Gesellschaft stehenden Menschen kämpft und die Wurzeln gegenwärtiger Unrechtsstrukturen ausreißen will.
Ein radikales Christentum pflegt sein großes Kontranarrativ (unser Welt kann und soll anders sein), baut an der Utopie der großen gesellschaftlich-ökonomischen Transformation mit und geht einer befreienden Praxis nach, um „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Karl Marx).
Es schafft mit zivilgesellschaftlichen Netzwerken Beziehungen, die die gleiche Richtung und Linie verfolgen. Eine solch christliche Lebenspraxis geht auf die Straße, demonstriert und baut Druck auf die Politik aus, für Frieden zu streiten und für die Kaputten der Gesellschaft einzutreten. Dieses Engagement entspricht christlicher Nachfolge oder anders ausgedrückt:
Wegen Gottes Willen „spricht die Bibel so unaufhörlich von den Armen und meint, dass der Reichtum, den wir zwischen uns und den Armen anhäufen, uns auch Gott verstellt und den Weg zu Gott verbaut. Hat Gott denn etwas mit der Wirtschaftsordnung zu tun? Die Bibel meint ja, und sie ergreift die Partei der Armen.“ (Sölle: Mose, Jesus und Marx, in: micha.links 01/2022, 11)
Ein radikales Christentum sieht die gegenwärtige ökologische „Zangenkrise“. Wir müssen den fossilen Verbrauch senken und haben eine immer geringere natürliche Ressourcenbasis dafür zukünftig zu Verfügung. Christliche Lebenspraxis wird alles Nötige unternehmen, sich mit Netzwerken zu verbinden, die sich für eine grundlegende Transformation unseres (ökonomischen) Zusammenlebens einsetzen (z. B. Attac, Postwachstumsökonomie, Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Gemeinwohlökonomie usw.)
Ein radikales Christentum nimmt seinen Glaubensgegenstand, Gott, ernst und lässt sich von seiner Liebe zur befreienden Praxis bewegen. Darin entspricht es der ohnmächtigen Liebe Gottes, die um den Menschen bangt und kämpft, ihn aber nicht zwingt, seinen Ruf in die Gerechtigkeit zu folgen (Anrede Gottes). Christliche Lebenspraxis folgt in seiner Radikalität dem Slogan: „Der ganz andere Gott will eine ganz andere Gesellschaft.“ (Helmut Gollwitzer). Es geht um eine Gesellschaft, die ein gutes Leben für alle Menschen (und die Natur) verlangt. Hierbei kann ein radikales Christentum darauf vertrauen, dass seine Hoffnung nicht ins Leere geht: Gott bürgt für sein Reich (Verheißung Gottes). Gottes Anrede und Verheißung wirken als permanent-befreiende Infragestellung des Menschen. Sie setzen die Erwartung und Gewissheit frei, dass Gottes Heilswille auch in anderen Religionen und säkularen Netzwerken tätig ist. Das Reich Gottes ist größer als jegliche Kirchenmauern.
Und weiter: Ein radikales Christentum nimmt seinen Relevanzverlust in der Gesellschaft ernst: Christliche Nachfolge kann nicht ohne Weiteres auf christlich geprägte Sozialisationsprozesse zurückgreifen, sondern muss seine Wichtigkeit im Hier und Jetzt unter Beweis stellen. Dies gelingt gerade im zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Bereich. Eine solche Ausrichtung, die linkspolitische Vernetzungen aufzuweisen hat, wird sicherlich nicht nur BefürworterInnen finden, sondern auch auf Widerstand stoßen – gerade von Menschen, die Nutznießer von Unrechtssystemen sind. So wird man sich am ehesten am christlichen Glauben wieder reiben können; man wird sich vielleicht über ihn ärgern, auch konstruktiv streiten und darin hoffentlich heilsame Brücken entdecken.
Ein Letztes: Ein radikales Christentum wird auf komplizierte Herausforderungen keine plumpen Antworten geben. Es wird jedoch gleichzeitig nicht darauf verzichten, deutlich und klar Götzenkritik zu treiben und für Frieden, Gerechtigkeit und zivilen Widerstand zu streiten.
Uns allen ein schönes Jahr 2023.