95 Jahre Bund der Religiösen Sozialist(inn)en Deutschlands – Ansprache des Ehrenvorsitzenden

Dr. theol. Reinhard Gaede  am  95. Gründungstag, 5. August 2021:

Jede(r) von uns hat seine/ihre eigene Gründe, sich auf den Weg zur Ursprungs-Stätte der Bewegung der „religiösen Sozialist(inn)en zu machen. Beim 3-Länder-Treffen der religiösen Sozialist(inn)en am Bodensee – die Dokumentation auf der Homepage der Schweizer https://www.kirchgemeinde.ch/kg/resos/3-laendertreffeninrorschach ist schon fertig – bin ich mit Ingelore, meiner Frau,  zum zweiten Mal im Schloss Meersburg gewesen.

Ein Motiv, dieser Geschichte zu gedenken, ist dieses: Wer einmal einen Soldatenfriedhof besucht und auf die unendlich scheinenden Reihen der Grab-Kreuze geschaut hat, fragt sich doch unwillkürlich: Gab es denn keinen rechtzeitigen Widerstand gegen Nationalsozialisten, die später den Weltkrieg mit 55-60 Millionen Toten auslösten? Und wo waren die Christ(inn)en? Antwort: Der Bund der religiösen Sozialisten war die einzige geschlossene christliche Bewegung, die von Anfang an über die Gefahren des braunen Terrors und eines drohenden Krieges informiert hatten und entschlossen Widerstand geleistet hatten. Und damit verbunden ist die Erkenntnis: Als Christ(inn)en für Demokratie und einen freiheitlichen Sozialismus einzutreten, ist keine neue Idee. Es ist eine lange Tradition, die durch das totalitäre Dritte Reich unterdrückt und unterbrochen worden ist. Und wir als Religiöse Sozialist(inn)en von heute stellen eine Kontinuität zwischen Tradition und heutigen Erkenntnissen wieder her gegen alles Vergessen und Verschweigen dieser Tradition. Viele Menschen der Friedensbewegung, deren Teil die religiösen Sozialisten ebenso wie der Versöhnungsbund und ökumenisch bewegte Christ(inn)en waren, sind vergessen worden. Dabei ist ihr Wirken bis heute eine Mahnung, den Frieden in einer von vielen Kriegen bedrohten Welt zu erhalten. Frieden ist im Zeitalter der Massenvernichtungsmittel „nicht nur eine Frage der Humanität und Moral, sondern eine Frage der nackten Existenz“, wie der von der NS-Diktatur ermordete religiös-sozialistische Widerstandskämpfer Theodor Haubach (1896-1945) sagte.

Über die Toten des Weltkriegs urteilen die religiösen Sozialisten im August 1926 (SaV 1926, 32, S. 169): Wenn ihr Sterben einen Sinn hatte, dann nur diesen: “Dass die Geister der Rache zur Hölle fahren und die Engel des Himmels ihren Ruf erheben ‚Friede auf Erden!’ Dafür sind sie gestorben: für die Einheit des menschlichen Geschlechts! Damit die Schranken fallen und  die Grenzen weichen:  e i n V o l k – das ist die  M e n s c h h e i t  und  e i n  V a t e r l a n d – das ist die  W e l t !“

Das andere zentrale Motiv ist das Suchen nach Gerechtigkeit. Massen von Menschen in Armut und Elend gestoßen, Opfer eines Wirtschaftssystems, das auf Egoismus und Konkurrenz ausgerichtet ist, brauchen Anwälte. Die Wahrnehmung von Ursachen des Elends von Menschen und der Gründe für die Zerstörung ihrer Umwelt verbindet sich mit Einsichten, welche die christliche Botschaft vermittelt. Bei der Neubelebung des Religiösen Sozialismus 1976/1977 überzeugten uns besonders die Worte von Paul Tillich und Carl Richard Wegener: „Die Ethik der christlichen Liebe erhebt Anklage gegen eine Gesellschaftsordnung, die bewusst und grundsätzlich auf dem wirtschaftlichen und politischen Egoismus aufgebaut ist, und fordert eine neue Ordnung, in welcher das Bewusstsein der Gemeinschaft das Fundament des gesellschaftlichen Aufbaues ist. (Idee des Sozialismus). Sie erhebt darum Anklage gegen den grundsätzlichen Egoismus der Privat- und Profitwirtschaft, die ihrem Wesen nach ein Kampf aller gegen alle ist, und fordert eine Wirtschaft der Solidarität aller und der Freude nicht am Gewinn, sondern am Werk selber.“

Im Sonntagsblatt des arbeitenden Volkes, in der Nummer 32 des Jahrs 1926 brachte die Redaktion in dem Artikel „Die unpolitische“ Kirche empört den Bericht über eine Versammlung des Kreiskriegerverbands Biedenkopf zum 90jährigen Stiftungsfest: Der eingeladene Redner Professor Pfarrer Veidt vom Herborner Predigerseminar habe beim Aufmarsch der Uniformierten mit dem Choral „Großer Gott, wir loben dich“ ausgeführt, er wünsche sich, „die alten Kommandos wieder zu hören und der Führer müsse gefunden werden, der sie abgeben kann“. Die Worte unseres Herrn Jesus „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ bezögen sich nur auf „den deutschen Volksgenossen“, nicht etwa auf „den Franzosen oder Engländer“. Ahnen konnte man schon bei dieser Rede eines Ausbilders von jungen Theologen den Weg nationalistischer Protestanten in die NS-Diktatur, in der das christliche Liebesgebot auch nationalistisch einengt wurde: Nächstenliebe nur für Deutsche oder sogar nur für nationalsozialistische Deutsche.  Wie die religiösen Sozialisten in der Weimarer Republik müssen Christ(inn)en in der Bundesrepublik heute wieder deutlich machen: Arme aus armen Ländern und Flüchtlinge aus Kriegsgebieten brauchen unsere Unterstützung und Aufnahme im Asyl. Und Menschen in Seenot lassen wir nicht ertrinken. Punkt! Aus der Geschichte sollen wir lernen.

Das Volksbegehren zur Fürstenenteignung, initiiert durch die KPD, unterstützt von SPD, auch von vielen Anhängern des Zentrum und der Deutschen Demokratischen Partei, haben die religiösen Sozialisten lebhaft begrüßt. In Nr. 29 des Jahrs 1926 bringt das Sonntagsblatt der arbeitenden Volkes den Artikel „Kirche –Volksentscheid“. Darin wird über die von Pfarrer August Bleier einberufene Volksversammlung berichtet, besucht von etwa 2000 Teilnehmern. August Bleier war von der Kreissynode Friedrichwerder II gemaßregelt worden und erhielt die Unterstützung der Versammlung. Zitiert wird die  „Bundesgenossin“ Hildegard Wegscheider, geb. Ziegler, Pfarrerstochter, eine der ersten promovierten Frauen, Dozentin an der Humboldt-Akademie, seit 1921 Abgeordnete für die SPD im preußischen Landtag. (vgl. Wikipedia) Sie klagte die Kirchen an, das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ zu missbrauchen, um die unchristlichen Forderungen der Fürsten zu legalisieren. „Den Kircheninstanzen fehlt augenscheinlich jedes Verständnis für die Not der Millionen hungernder Volksgenossen“. Wir religiöse Sozialisten sind der letzte Verbindungsfaden zwischen dem mit Recht verbitterten Volk und dem wertvollen Kern der Religiosität. Aus dem Willen des arbeitenden Volkes wird die Kirche der Zukunft, die eine Volkskirche sein wird, gebaut werden. (Stürmischer lang anhaltender Beifall).“
Suche nach Gerechtigkeit ist der bleibende Auftrag den Religiöse Sozialist(inn)en annehmen sollen.

So die Meersburger Kundgebung im August 1926:

„Allen schwergeprüften Brüdern und Schwestern des Proletariats rufen wir zu: Wir fühlen uns verantwortlich und mit euch verbunden in der Tiefe unseres Gewissens, weil euer Leid unser Leid, eure Sehnsucht unsere Sehnsucht ist.” Die Bereicherung auf Kosten der Elenden wird mit dem biblischen Begriff „Versündigung” verurteilt. „Angesichts der Kriegs­beschädigten und Kriegswaisen, angesichts der durch die Inflation Enterbten und Beraubten unseres Volkes, angesichts der Arbeitsinvaliden und der vom Lebenskampf Zerbrochenen pro­testieren wir gegen die Verschleuderung von Volksgut an die Fürsten, bedauern nach wie vor auf das tiefste die verfehlte Stellungnahme großer kirchlicher Verbände und stehen als religiöse So­zialisten auf dem Standpunkt, dass es eine Versündigung im Geist des Evangeliums ist (sc. im Geist des Evangeliums geurteilt), Millionäre zu schaffen, solange das Geld den höchsten Wert darstellt, und Menschen aus Hunger heraus sich selbst das Leben nehmen müssen.”

Wie aktuell heute noch! Wir haben viele Aufgaben vor uns.

Reinhard Gaede, 5. August 2021

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