Der Pazifist. Versuch einer Begriffsklärung
Reinhard Müller: Der Pazifist. Versuch einer Begriffsklärung
1.Die Hintergründe des Begriffs1
1.1 Das Wort kommt vom lateinischen pacificus, einer Verbindung der Worte pax (= Frieden) und
facere (= tun, machen) und wird mit ‚friedfertig‘, ‚friedlich‘ und ‚sanft’‘ übersetzt. Das ‚pacem
facere‘ bedeutet eindeutig eine aktive Handlung: ‚Frieden machen‘.
1.2 Im Römischen Reich bedeutete das dem Substantiv pax zugrundeliegende Verb pacare:
befrieden, unterwerfen. Dem entspricht das damalige Sprichwort: Si vis pacem para bellum (‚Wenn
du Frieden willst, bereite den Krieg‘). Es gehört zur machthungrigen Kriegslogik des Römischen
Reiches, wonach Frieden dann ist, wenn die Feinde tot sind.
1.3 Der offensichtliche Gegensatz der beiden Friedensbegriffe in 1.1 und 1.2 signalisiert schon die
allgemeine Notwendigkeit,
einerseits die Mittel (bei 1.1 vornehmlich gewaltfrei; bei 1.2 allein militärische Gewalt)
und andererseits die inhaltlichen Werte von ‚Frieden‘ jeweils genau zu bestimmen: Freiheit,
Demokratie, Leben, Macht, Grenzen, Staat, ‚Friedhofsruhe‘, ….
- Jesus und die erste Christenheit
2.1 Laut dem Evangelisten Matthäus hält Jesus seine berühmte Bergpredigt mitsamt der einen
Seligpreisung (5,9): „Selig sind die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes heißen.“ Im
Kontext der Bergpredigt und vor allem der anderen Seligpreisungen ist der inhaltliche Wert
eindeutig: Nämlich das im Text mehrmals als Grundlage genannte Reich Gottes. Das kann so
beschrieben werden: das selige Zusammensein der geistlich Armen, der Leidtragenden, der
Sanftmütigen, derer die nach Gerechtigkeit dürsten und reines Herzen sind, der Barmherzigen –
also auf jeden Fall der lebendigen Menschen.
Dabei sind reine Gewaltanwendung und das Töten des Feindes keine Optionen, was die als
Deutungstexte gut geeigneten anderen Worte Jesu bestätigen: „Da sprach Jesus zu ihm: Stecke
dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der soll durchs Schwert umkommen.
“(Matth. 26, 52) Oder: „Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen!“ (Matth.
5,44)
Demnach kann man die genannte Seligpreisung auch frei übertragen: ‚Eine schöne Seele haben die,
die die schwere Arbeit des Friedens tun. Gott erkennt sich in ihnen wieder.‘ Oder ‚Selig sind die
‚Pazifisten‘, denn sie erfüllen Gottes Frieden‘.
2.2 Luther hatte in Matth. 5,9 aus dem griechischen das ‚eiränopoioi‘ (= lateinisch pacifici) eben mit
die ‚Friedfertigen‘ übersetzt und ursprünglich angemerkt: „nämlich die den Frieden machen“. Die
Bibelrevision von 2017 will das leider etwas zu schwach verdeutlichen und übersetzt „Frieden
stiften“. So prägte das ‚friedfertig‘ in den letzten Jahrhunderten das öffentliche Bewusstsein. Die
Übersetzung mit ‚friedfertig‘ ist ja grundsätzlich richtig: den ‚Frieden anfertigen, herstellen‘. Jedoch
erhielt das Wort ‚friedfertig‘ schnell eine passive Bedeutung: ‚friedlich, duldsam, sanft, ruhig, zart,
…‘ So förderte wohl die Übersetzung mit ‚friedfertig‘ die Reduktion der siebten Seligpreisung allein
auf Gewaltverzicht und Erdulden aller Gewalt, was bald als Erfolglosigkeit und Einfältigkeit
abgestempelt wurde.
2.3 Diese Umkehr von Aktivität in Passivität wurde aber offensichtlich durch eine andere Aussage
Jesu verursacht, mit der man die Seligpreisung irrtümlich sehr einseitig deuten wollte und will: „Ihr
habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 21,24): ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘. Ich aber sage euch,
dass ihr nicht widerstreben sollt dem Bösen, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe
schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock
nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand eine Meile nötigt, so geh mit ihm
zwei.“ (Matthäus 5,39f.).
Das ist aber gerade keine Aufforderung Jesu an Opfer: lass dich ein zweites Mal Ohrfeigen, lass dich
zusammenschlagen. Sondern: Wenn dich jemand erniedrigend mit dem harten Handrücken auf die
rechte Backe schlägt, so halte ihm die linke Backe hin! Das war die Einforderung von Respekt und
Würde! Denn diese gesellschaftliche Hürde respektiert jeder und wird einen Untergegebenen nicht
durch den Schlag auf die linke Backe als gleichen Stand anerkennen! Auch mit den anderen beiden
Weisungen will Jesus die ‚Mühseligen und Beladenen‘ zu Seligen erheben, indem er sie nicht in der
Opferrolle belässt. Sie sollen auf Augenhöhe mit den Brutalen denen ein Angebot machen, was sie
ins Unrecht und in die gesellschaftliche Verachtung setzt und sie nicht annehmen können. Diese
neue äußerst menschliche und gewaltfreie Strategie lässt die Gewalt ins Leere laufen.2
2.4 Die Christen der ersten drei Jahrhunderte verstanden Botschaft und Lebensart Jesu als
Aufforderung zum Frieden und insbesondere die Kreuzigung als Gewaltverzicht – und damit das
Christsein unvereinbar mit dem Kriegsdienst.
2.5 Im Jahre 380 wurde von Kaiser Theodosius das Christentum zur alleinigen Staatsreligion
erhoben. Um den christlichen Glauben mit der Staatsräson und dem Kriegsdienst anschlussfähig zu
machen, entwickelte der Kirchenvater Augustinus die „Lehre vom gerechten Krieg“: ‚Der Krieg muss
dem Frieden dienen. Er darf sich nur gegen begangenes, dem Feind vorwerfbares Unrecht richten.
Eine legitime Autorität muss den Krieg anordnen. Die innerstaatliche Ordnung des Befehlens und
Gehorchens muss gewahrt werden. Der Kriegsbefehl darf nicht gegen Gottes Gebot verstoßen. Das
Ziel des gerechten Krieges ist der Frieden mit dem besiegten Gegner, nicht dessen Vernichtung!‘3
Diese Lehre bestimmte seitdem die kirchliche Haltung zum Krieg als selbstverständliche Institution. - Friedenskirchen und Pazifisten
3.1 Neben einer kleinen Minderheit in den Großkirchen blieben die sogenannten Friedenskirchen
(Waldenser, Mennoniten, Quäker, u.a.) bei der Ablehnung des Krieges und bei der Praxis der
Kriegsdienstverweigerung.
3.2 Vor allem außerhalb der Kirchen entstanden im 19.Jahrhundert mehrere organisierte
Friedensbewegungen, in denen sich erst nach und nach der Begriff „Pazifist“ durchsetzte.
3.3 Spätestens der Erste Weltkrieg mit dem Einsatz von Massenvernichtungsmitteln (Gas,
automatische Waffen) ließ die Erkenntnis reifen, dass es keine ‘gerechten Kriege’ mehr gibt.
So unter anderem bei Dietrich Bonhoeffer, der schon 1932 in einem Vortrag sagen konnte: „Die
Kirche wagt also etwa zu sagen: geht nicht in diesen Krieg; seid heute Sozialisten” (DBW 11, 334)
und „Wir sollen uns hier auch nicht vor dem Wort Pazifismus scheuen“ (DBW 11, 341).
Entscheidend für Bonhoeffer war, dass er dies angesichts der damaligen ganz konkreten
Kriegsvorbereitungen sagte, was auch sinngemäß für eine Zusammenfassung des Vortrags gilt: ‚Seid
heute Pazifisten!‘4
Auf dieser Grundlage schloss sich Bonhoeffer später der Widerstandgruppe an, die mit dem
Attentat auf den Kriegsverursacher das Ziel hatte, eine Fiedensregelung zu erreichen. Im
Bewusstsein, dass die Tötung eines Menschen auch Schuld bedeutet, wollte Bonhoeffer damit
keine allgemeine Gewaltanwendung begründen, sondern den Krieg und die Judenvernichtung
gerade beenden.
3.4 Pazifisten setzen uneingeschränkt auf das Menschenrecht der UN-Charta auf Leben und
körperliche Unversehrtheit, das in jedem neuzeitlichen Krieg zwangsläufig und in großem Umfang
verletzt wird. So sehen sie in militärischer Gewalt kein geeignetes und auch kein legitimes Mittel
zur Konfliktlösung zwischen Staaten. In dieser ethischen Grundhaltung wollen sie sich nicht an
Kriegen beteiligen. Es ist freilich nicht immer deutlich geworden, dass dazu auch gehört,
bewaffnete Konflikte aktiv zu vermeiden. So gehört es selbstverständlich zum Pazifismus,
Bedingungen für dauerhaften Frieden zu schaffen, und zwar durch aktiven Friedensdienst wie
Krisenprävention, Diplomatie, zivile Mediation, Verhandlungen, Kompromisse, Verträge, etc.
3.5 Dabei lehnen strengere Pazifisten jede Gewaltanwendung als Lösung von Konflikten ab und
möchten auch im alltäglichen Leben gewaltfrei leben. Dabei sind sie bestrebt, Gewalt ins Leere
laufen zu lassen oder nehmen in Kauf, selbst Gewalt zu erleiden.
3.6 Das Recht auf Notwehr ist damit nicht generell abgelehnt, sondern auf ein Mindestmaß
reduziert. Jedenfalls ist es im zwischenmenschlichen Bereich durch das Verbot von Rache und
Selbstjustiz klar begrenzt.
3.7 Im zwischenstaatlichen Bereich ist das Recht auf Selbstverteidigung im Völkerrecht verankert. Es
gilt nur bis der UN-Sicherheitsrat eine Lösung gefunden hat. Diese wird leider durch das Veto einer
beteiligten Großmacht verhindert.
So mutiert eine legale Landesverteidigung auf Dauer zum zerstörerischen Krieg, in dem Menschen
getötet, Städte und Natur zerstört, Klima verändert und Millionen Menschen fliehen müssen. Das
erfüllt alle Kriterien des Pazifismus zur Ablehnung des Krieges, weil das Rechtsgut der
Selbstverteidigung eines Staatswesens nicht das Menschenrecht auf Leben und körperliche
Unversehrtheit verdrängen darf. - Friedensdienst und Militär
4.1 In der Realität hat der Friedensdienst hier und da kleine Erfolge, aber kriegerische Konflikte und
verbrecherische Angriffe sind die bittere Normalität. Das hat aber eine klare Ursache darin, dass
Friedensdienst eintausendmal weniger finanziert wird als das Militär. Die Institution Krieg ist seit
Jahrhunderten eine feste Institution und für jede Regierung ist gut ausgebildetes und bewaffnetes
Militär sofort verfügbar.
Wieviel Diplomaten und Mediatoren könnte man mit 100 Milliarden Euro ausbilden und einsetzen?
4.2 Die andere Ursache für die vielen Kriege ist eine fehlende funktionierende internationale
Polizei. Im Streitfall obliegt nämlich eine präventive und rechtserhaltende Gewalt nicht einem
Streitenden und auch nicht einem Opfer. Das Gewaltmonopol (einschließlich die
Waffenherstellung) hat nicht das Militär als Streitmacht einer Nation, sondern allein eine über-
nationale Polizei: also eine demokratische UNO.
4.3 Verbleibende Mittel gegen einen doch noch stattfindenden Angriff sind also soziale
Verteidigung und ziviler Ungehorsam sowie der Gewalt einschließende Einsatz von Polizei als ultima
ratio.
Wenn ein oder mehrere Hauptverbrecher klar sind, sollten statt einem ganzen Land diese
handlungsunfähig gemacht werden. Letzteres hielt Dietrich Bonhoeffer in seiner Zeit für geboten
und verantwortbar, weil dabei Gewalt, Tod und Schuld auch vorhanden, aber klar eingegrenzt
waren. Dies gilt auch für die anderen Mittel als die kleineren Übel. - Pazifismus heute
5.1 Da der Pazifismus ziemlich vielschichtig ist, ist er leider oft missdeutet worden, sodass er durch
Adjektive präzisiert werden musste. Diese verdeutlichen aber nur jeweils das Missverständnis oder
die Einengung und geben meist keine inhaltliche Klärung, sondern nur formale Kriterien: radikaler,
pragmatischer, situativer, kategorischer, Atom-Pazifismus …
5.2 In letzter Zeit erleben Pazifisten eine verstärkte Diffamierung. Es gehört offensichtlich zur
Kriegspropaganda, wenn Kriegsteilnehmer die konsequenten Kriegsgegner der Untätigkeit und der
Unterstützung des Feindes bezichtigen und dem Reich des Bösen zuordnen.
5.3 Was die Pazifisten verbindet, ist die Ablehnung von Gewalt und Krieg. Und das ist gut so. Aber
solange es bei der reinen Verneinung bleibt, steht die Übermacht der Jahrtausende alten
Institution Krieg fest in den Köpfen der Nationalisten und Machthungrigen. Zur Ablehnung gehört –
dem Wortsinn von Pazifismus gemäß – die aktive schwere Arbeit des Aufbaus von
Friedenstrukturen.
5.4 Grundlegend dafür ist eine Friedensstrategie (siehe 2.3): Nicht mehr Rache und Widerstand
gegen Böses, nicht mehr Gewalt gegen Gewalt, sondern Respekt auf Augenhöhe. Und zwar durch
Diplomatie, Verhandlungen und Verträge aufkeimende Gewalt ins Leere laufen lassen. Dann
können die wirklichen Probleme ohne Waffen gelöst werden: wirtschaftliche Ungerechtigkeit,
Rivalität von Nationen und Großmächten.
Und wenn doch ein verbrecherischer Angriffskrieg erfolgt: die Waffen werden erst schweigen,
wenn die Probleme gelöst sind.
5.5 Das muss zur Abschaffung der Institution Krieg führen, weil er kein Mittel zur Lösung von
Konflikten ist und die angegriffenen Opfer nicht schützt. Im Gegenteil: Krieg ist unmenschlich,
unvernünftig, unjesuanisch und ungöttlich! So fehlte dem Pazifismus bisher seine logische
Konsequenz: Abschaffung des Militärs und Errichtung einer internationalen Polizei! Genau das ist
der Inhalt der Initiative der Ev. Badischen Landeskirche: „Sicherheit neu denken“, die erstmalig
einen genauen Militär-Ausstiegsplan entworfen hat.5
Geben wir damit dem Leben seinen Raum und erfüllen so die Erwartung Gottes, die wir schon zu
lange als naive Vision des Propheten Micha (4,3) vor uns hergeschoben haben: „Sie werden ihre
Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Es wird kein Volk wider das andere
das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Ein jeder wird
unter seinem Weinstock und Feigenbaum wohnen, und niemand wird sie schrecken.“
Reinhard Müller, Nieder Seifersdorf September 2023
Anmerkungen:
1 Artikel ‚Pazifismus‘ bei Wikipedia.
2 Dr. Walter Wink, Angesichts des Feindes, Der dritte Weg Jesu in Südafrika und anderswo, Claudius Verlag München 1988, S.33-
45, übersetzt von Andreas Ebert.
3 Artikel ‚Augustinus‘ bei Wikipedia.
4 Vortrag vor Vertretern des Weltbunds für Freundschaftsarbeit der Kirchen im slowakischen Cernohorske Kupele.
Siehe Andreas Pangritz, Dietrich Bonhoeffer: Zur Aktualität seiner friedensethischen Position. In epd Dokumentation 29/2023, S.
27ff. Vergleiche auch: „Pacem facere“ – Frieden schaffen. Resolution Nr. 47 des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins, Erfurt 2016.
5 Homepage „Sicherheit neu denken“. Siehe auch Harmsen, Maaß, Scheffler, Ziegler (Hg.), Weltinnenpolitik und Internationale Polizei, V&R unipress Göttingen 2023.