Den Kapitalismus als Ganzes überwinden!

Da es im Kapitalismus keine Alternativen gibt, brauchen wir Alternativen zum Kapitalismus

Verfasst von: Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar e.V.

 Teil I

1. Einleitung

„Das ‚Ganze’ verändern“. Unter diesem programmatischen Titel hatte das Ökumenische Netz Rhein-Mosel-Saar 2005 seine Kapitalismuskritik formuliert. Ähnlich den Stellungnahmen des Ökumenischen Rats der Kirchen und von Papst Franziskus wurde das ‚Ganze’ vor allem unter dem verkürzten Aspekt des ‚Totalen Marktes‘ gesehen. Der Text war ein erster Versuch, ein politisch-ökonomisch und theologisch reflektiertes Nein zum Kapitalismus zu begründen. Wenn wir heute formulieren: „Den Kapitalismus als Ganzes überwinden!“, nehmen wir den Kapitalismus nicht nur als Wirtschafts-, sondern als Gesellschaftsform in den Blick. Er lässt sich nicht auf einzelne Bereiche beschränken, sondern durchdringt die Gesellschaft als Ganzes, d.h. Wirtschaft und Politik, Kultur und Religion, Denken und Handeln, nicht zuletzt die psycho-soziale Konstitution der Individuen. Dabei sehen wir den Kapitalismus nicht als monolithischen Block, sondern als einen Prozess, der sich in seinen Erscheinungen angesichts gesellschaftlicher Krisen ständig verändert, aber nicht aus seiner gesellschaftlichen Formbestimmung aussteigen, d.h. seine grundlegende Konstitution, sein Wesen nicht verändern kann. Daher ist es im Rahmen des Kapitalismus nicht möglich, die sich zuspitzenden globalen Krisen zu lösen. Stattdessen treibt er immer weiterin einen Krisenprozess, der Menschen ausgrenzt und tötet sowie die Grundlagen des Lebens zerstört.

Welche der hervorgerufenen sog. Vielfachkrisen dabei in den Vordergrund treten, hängt weitgehend von Zufälligkeiten ab, davon, was das meist kurzfristige und deshalb schnell wechselnde Interesse von Medien und Öffentlichkeit erregt. In den Monaten von 2019, in denen wir die Endfassung dieses Papiers schreiben, ist vor allem der Klimawandel (erneut) in den Blick gekommen, weil sich Schülerinnen und Schüler gegen die Bedrohung ihrer Zukunft wehren.

Wer sich jedoch nicht von medialen Konjunkturen abhängig macht, kann wahrnehmen, dass eine ganze Kette von Krisenprozessen ihre nachhaltigen Zerstörungspotentiale global entfalten. Wir erinnern an

  • die Prozesse sozialer Spaltung und Verarmung, die global – in Deutschland auch bei günstigen konjunkturellen Daten – voranschreiten,
  • zerfallende Staaten, in denen sich Plünderungsökonomien und Terrorbanden breit machen, die auch durch militärische Interventionen nicht ‚in den Griff‘ zu bekommen sind,
  • die ökologischen Katastrophen, die einhergehend mit den sozialen und politischen Zerfallsprozessen in weiten Teilen der Welt Leben und Überleben unmöglich machen,
  • die Migrant*innen, in deren Flucht sich die Krise Ausdruck verschafft,
  • bis in die Mitte der Gesellschaft reichende Bewegungen und Parteien, die in nationalistisch-regionalistischem Denken sowie mit gewaltorientierten rassistischen, sexistischen, antiziganistischen und antisemitischen Orientierungen von der Krise zu profitieren suchen,
  • die weltweite Zunahme von (polizei-)staatlicher Repression und militärischem Säbelrasseln,
  • Menschen, die angesichts der unbegriffenen Krisen auf sich selbst zurück geworfen sind und als ‚unternehmerisches Selbst‘ durch immer neue individuelle Anpassungsleistungen die Krise als ‚Einzelne‘ bewältigen sollen und in ihrer Erschöpfung depressiv werden
  • sowie nicht zuletzt an die Weltwirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2007-2009, an der die Hoffnungen auf einen finanzgetriebenen Kapitalismus ebenso gescheitert sind wie das Vertrauen in die staatlichen Rettungs- und Interventionsmöglichkeiten.

Die sich zuspitzenden Krisenprozesse waren im Ökumenischen Netz immer wieder Anlass dafür, dass wir uns mit dem gesellschaftlichen Ganzen der kapitalistischen Verhältnisse beschäftigt haben, in deren ‚Betriebssystem’ sie sich ausagieren. Zentral geworden ist uns die Erkenntnis, dass die sog. Vielfachkrisen in diesem gesellschaftlichen Rahmen nicht nur nicht bewältigt werden können, sondern konsequent in Katastrophen treiben. Perspektiven für das Leben von Menschen und der Schöpfung können nur entwickelt werden, wenn es gelingt, mit der kapitalistischen Vergesellschaftung zu brechen. In den Vielfachkrisen kommt die Krise dieser Vergesellschaftung zum Ausdruck. Aus ihr gibt es keinen Ausweg, ohne das Ganze der kapitalistischen Gesellschaftsform und der mit ihr verbundenen patriarchalen Geschlechterverhältnisse zu überwinden.

Mit dem Papier „Den Kapitalismus als Ganzes überwinden!“ wollen wir diese Erkenntnis deutlich machen und das Bewusstsein dafür schärfen, dass ohne Überwindung des Kapitalismus keine Perspektive gegen die Zerstörung und für das Leben von Menschen und derSchöpfung zu gewinnen ist. Wir tun dies auch angesichts von Entwicklungen in sozialen Bewegungen und in den Kirchen, die sich stillschweigend mit dieser Situation abgefunden haben oder deren Kritik nicht an die Konstitution der kapitalistischen Gesellschaft heranreicht und so verkürzt bleiben muss. Vielleicht können wir einen bescheidenen Beitrag dazu leisten, eine auf seine Überwindung zielende Kritik des Kapitalismus voranzutreiben, ohne die alle Perspektiven von Veränderungen zum Scheitern verurteilt sind. Die Zeit drängt angesichts einer Krise, die jetzt schon zu einer globalen Überlebenskrise geworden ist.

In unserem Text gehen wir von den Krisen- und Zerstörungsprozessen aus, die wir erleben (1./2.), reflektieren sie im Blick auf das ‚Ganze’ der kapitalistischen Verhältnisse (3.), verbinden dies mit biblisch-theologischem Nachdenken (4.) und fragen, was all das für unser Handeln zu bedeuten hat (5.).

2. Was wir wahrnehmen: Zerstörungsprozesse

In den letzten Jahren haben sich die sozialen Spaltungsprozessein Deutschland, vor allem aber weltweit verschärft. Die Arbeit verliert ihre Bedeutung als Grundlage zur materiellen Sicherung des Lebens, zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und als Grundlage für subjektive Identität. Menschen werden ‚überflüssig‘, weil sie als ‚Humankapital‘ nicht mehr verwertbar sind oder müssen unter prekären Bedingungen arbeiten, d.h. ohne ausreichenden rechtlichen Schutz und für Löhne, von denen sie nicht leben können.

Vom sich verschärfenden Überlebenskampf sind vor allem Menschen in der Zweidrittelwelt betroffen. Menschen leiden unter Armut, Hunger und Krankheit, fehlender oder einbrechender sozialer Sicherheit, der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen (Desertifizierung, Bodenerosion, Wetterextreme, Wasserverschmutzung usw.), polizeistaatlicher und militärischer Repression, aber auch unterder Verwilderung der staatlich nicht mehr kontrollierbaren Polizei- und Militärapparate (Banden, Milizen). Ökonomische und ökologische Zerstörungsprozesse, politische und soziale Zusammenbrüche treiben Menschen in einen verschärften, vermehrt mit Mitteln von Gewalt und Terror ausgetragenen Überlebenskampf, in dem Gewalt zum Selbstzweck werden kann. Die Ausweglosigkeit der Verhältnisse führt in eine Barbarisierung, die ihren Ausdruck im ‚Krieg aller gegen alle’ findet.

Auch in den Ländern der kapitalistischen Zentren wächst Armut. Sie geht einher mit schlechter Ernährung, schlechterer medizinischer Versorgung, mit Obdachlosigkeit und Wohnungsnot, während mit der Gentrifizierung von Stadtteilen gleichzeitig bezahlbarer Wohnraum vernichtet wird. Diese Prozesse sind begleitet von prekarisierten,d.h. schlecht entlohnten und rechtlich ungesicherten Arbeitsverhältnissen. Dies führt dazu, dass Menschen von einer oder gar mehreren schlecht bezahlten Arbeiten nicht leben können. Wer Zugang zu Arbeit will – erst recht zu besser bezahlten Jobs – muss sich den individuellen und sozialen Zumutungen der Arbeitswelt in einem unabschließbaren und psychisch zerstörerischen Prozess der Selbstoptimierung anpassen. Ausgrenzung und soziale Spaltung verführen Menschen dazu, sich noch einmal gegen andere, die noch weiter unten stehen,abzugrenzen. Abstiegsängste und Vereinzelung treiben in einen unbarmherzigen Kampf um Selbstbehauptung. Damit sollen die eigenen Interessen gegen die vermeintliche Bedrohung durch andere abgesichert werden. Im Kampf um Selbstbehauptung werden andere, vor allem Flüchtende und Minderheiten, als Bedrohung erlebt. Ein solches Klima begünstigt das (Wieder-)Erstarken rassistischer, sexistischer, antiziganistischer und antisemitischer Strömungen.

Deutschland hat sich durch die von Sozialdemokraten und Grünen durchgesetzte Hartz-IV-Gesetzgebung einen Vorteil in der globalen Konkurrenz verschafft und konnte kurzfristig zum Exportweltmeister aufsteigen sowie im globalen Vergleich eine günstigere wirtschaftliche Entwicklung nehmen als die Konkurrenten auf dem Weltmarkt. Dies war zum einen nur dadurch möglich, dass schwächere Länder mittels prekärer Beschäftigung nieder konkurriert und in die Verschuldung getrieben wurden. Zum anderen haben selbst diese ‚Erfolge‘ die Spaltungsprozesse auch in Deutschland nicht aufhalten können. Sie zeigen sich besonders drastisch in der Armut von Kindern und alten Menschen.

Die Politik steht all diesen Prozessen hilf-, weil perspektivlos gegenüber. Ihre Maßnahmen zielen darauf ab, die Krise zu verwalten und in Grenzen zu halten, d.h. die Verwertungsprozesse des Kapitals aufrechtzuerhalten, koste es, was es wolle: Ob technologiebasierte Datensammelwut oder sklavenartige Arbeitsbedingungen, die Palette ist riesig. Dabei schrecken Politiker*innen auch nicht davor zurück, dumpfe Stimmungslagen und Ressentiments zu bedienen, z.B. dadurch, dass deutsche Arme gegen Flüchtende ausgespielt werden.

Soziale Bewegungen beschränken sich oft auf illusionäre Forderungen, die von der Wiederherstellung des alten Sozialstaats geprägt sind. Sie fordern mehr Fairness in Produktion und Handel, Maßnahmen für Wohnungen, Gesundheit, Bildung… Dabei reflektieren sie nicht, dass all das bereits in den 1970/80er Jahren an verschärfter Konkurrenz gescheitert und an die Grenzen der Finanzierbarkeit gestoßen ist und die Wende zum inzwischen selbst gescheiterten Neoliberalismus ausgelöst hatte. Gegen Rassismus und Antisemitismus werden Aufklärung und Demokratie beschworen, ohne die rassistischen Konnotationen der Aufklärung und die mit der kapitalistischen Demokratie verbundene Selektion der Menschen in ‚verwertbares Humankapital‘ und ‚Überflüssige‘ zu reflektieren.

Es wäre naheliegend, dass die sich verschärfende Krise ein intensiveres Nachdenken über die gesellschaftlichen Zusammenhänge der Krisenerscheinungen und ihre Vermittlung mit der gesellschaftlichen Totalität auslösen würde. Das Gegenteil aber ist der Fall. Die dazu notwendige theoretische Reflexion findet nicht statt. Selbst die inzwischen auch in den Zentren spürbare Klimakatastrophe führt nicht zu einem Umdenken, sondern verbindet sich mit derIllusion, sie wäre mit kapitalistischen Mitteln in den Griff zu bekommen.

Unter dem Druck der vielfältigen Probleme fliehen soziale Bewegungen oft in einen Handlungsfetischismus, der in ‚falscher Unmittelbarkeit‘ zu unreflektiertem und deshalb illusionärem Aktionismus treibt.Von der ‚falschen Unmittelbarkeit’ eines Handlungsfetischismus getragen sind vor allem die auch in der gesellschaftlichen Mitte auf Zustimmung stoßenden rechten Bewegungen. Ohne durch das Distanz schaffende ‚Purgatorium‘ (‚Fegefeuer‘) kritischer Reflexion hindurch zu gehen, maßen sie sich an, Schuldige unmittelbar auszumachen, in konkretistischer Manier Probleme benennen und lösen zu können. Es scheint, als sollten die im Rahmen kapitalistischer Gesellschaftsformation und ihrer Logik nicht mehr zu bewältigenden und sichzur Überlebenskrise des Globus zuspitzenden Widersprüche dadurch gebannt werden, dass sie aus dem Denken verschwinden und/oder aktionistisch kompensiert werden.