Teil II – Das ‘Ganze’ reflektieren

Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar

3. Das ‚Ganze’ reflektieren

Angesichts sich zuspitzender Krisen ist es an der Zeit, gewonnene Einsichten neu zu formulieren und weiterzuentwickeln bzw. Verkürzungen zu korrigieren. Dabei muss eszum einen darum gehen zu erkennen, dass die einzelnen Krisenphänomene nicht einfach für sich stehen, sondern mit der Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung vermittelt sind: In den Krisenphänomenen wird das ‚Ganze’ der kapitalistischen Verhältnisse sichtbar. Zum zweiten muss schärfer in den Blick kommen, dass die kapitalistische Totalität gleichursprünglich durch die männlich konnotierte Produktion von Wert und Mehrwertmittels der Verausgabung von Arbeit unddie weiblich konnotierte Abspaltung der Reproduktion, d.h. von Erziehung, Pflege und menschlicher Zuwendung, bestimmt ist. Und schließlich gilt es zu bedenken, dass die kapitalistische Gesellschaft aufgrund ihrer immanenten Widersprüche auf eine im Rahmen der kapitalistischen Vergesellschaftung nicht mehr zu überwindende Krise und damit auf eine globale gesellschaftliche Katastrophe zusteuert, die sich auf unterschiedlichen Ebenen ausagiert.

3.1 Die globalen Krisen als Krise der kapitalistischen Form verstehen: Das Kapital als ‚prozessierender Widerspruch’

Karl Marx hatte das Kapital als ‚prozessierenden Widerspruch’ verstanden. Die Unternehmen müssenunter den Bedingungen der Konkurrenz produzieren.Sie stehen alsounter dem Zwang, produktiver zu produzieren als die Konkurrenten. Produktiver können sie dann sein, wenn sie menschliche Arbeit als Quelle von Wert und Mehr-Wert durch Technologie ersetzen und so schneller und billiger mehr Waren herstellen können als ihre Konkurrenten.Der Kapitalismus ist also durch einen logischen Widerspruch konstituiert. Er setzt Unternehmen unter den Zwang, Arbeit durch Technologie zu ersetzen. Damit untergräbt er seine eigenen Grundlagen und treibt seinen eigenen Zerstörungsprozess voran. Dieser Widerspruch hängt damit zusammen, dass abstrakteArbeit die Grundlage für die Produktion von Wert- und Mehrwert ist, der in den produzierten Waren dargestellt ist und im Verkauf der Waren realisiert wird. Abstrahiert wird vom konkreten Inhalt der Arbeit. Was zählt, ist die Quantifizierbarkeit der Arbeit. Sie wird in der im gesellschaftlichen Durchschnitt der für die Produktion von Waren verausgabten Arbeitszeit gemessen.Weil es möglich ist, die Arbeit über die Zeit, die zu ihrer Reproduktion nötig ist, hinaus einzusetzen, kann sie nicht nur Wert, sondern auch Mehr-Wert schaffen, also Wert, der ‚mehr’ ist als der Wert, der in der Zeit ihrer Reproduktion geschaffen wird. Je mehr der Kapitalismus dazu gezwungen ist, im Interesse von Produktivität und Konkurrenzfähigkeit Arbeit durch Technologie zu ersetzen, wird mit der Arbeit die Grundlage der kapitalistischen Veranstaltung zum Verschwinden gebracht.

Den ‚prozessierenden Widerspruch’ hatte Marx als logische Schranke des Kapitalismus erkannt. Sie stößt mit den Krisenerscheinungen seit den 1970/80er Jahren auch auf historische Schranken. Mit der mikroelektronischen Revolution beginnt ein bis heute andauernder und mit vorangetriebener Digitalisierung (Industrie 4.0 etc.) sich verschärfender Prozess, in dem mehr Arbeit verschwindet als durch Verbilligung und Diversifizierung derProduktion sowie durch die Ausweitung von Märkten kompensiert werden kann. Der Kapitalismus muss damit leben, dass die Arbeit als Quelle der Produktion von Wert und Mehrwert versiegt. So verliert der abstrakte und irrationale Selbstzweck der kapitalistischen Produktion, aus Geld Mehr-Geld zu machen, um es als Kapital wieder in den Verwertungsprozess fließen zu lassen, seine Grundlage.

Um die schwindende Arbeit und die damit verbundenen Grenzen der Vermehrung des Kapitals in der Realwirtschaft zu kompensieren, wurde seit den 1970er Jahrendie Vermehrung des Geldes durch den Handel mit Geld bzw. Wertpapieren massiv vorangetrieben. Die über den Handel mit Finanztiteln ermöglichte Akkumulation hat aber lediglich den Charakter einer Scheinakkumulation, da das so vermehrte Geld ohne Bindung an realen Wert bleibt, also ‚Geld ohne Wert’ ist. Vom Zufluss von Geld ohne Wert sind inzwischen große Teile der immer komplexeren und teurer werdenden realwirtschaftlichen Produktion abhängig. Aufgrund der schwindenden Arbeitssubstanz kann kein Bezug mehr von Finanzmärkten zur Mehrwertproduktion hergestellt werden.So entsteht ein Finanzblasenprozess, dessen Blasen immer häufiger und mit dramatischeren Folgen platzen. Spätestens mit der weltweiten Finanz- und Weltwirtschaftskrise 2007-09, die durch die Immobilienkrise 2007 in den USA ausgelöst wurde, sollten die Grenzen dieses ‚Lösungsversuchs’ offensichtlich geworden sein.

Es ist mit immer mehr Risiken verbunden, den Bedarf an Geld für Investitionen über die Finanzmärkte zu sichern, zumal für immer neue und komplexere Technologien immer höhere Summen aufgewendet werden müssen. So werden sichdie Krisenerscheinungen weiter verschärfen, die sich schon seit den 1970er Jahren zeigen. Der Druckzur Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, zuVerschuldungsprozessen und Standortkonkurrenz als Wettlauf um die kostengünstigsten Orte für die Produktion wird stärker. Durch Wegfall und Prekarisierung von Arbeit verringern sich auch die damit verbundenen Steuereinnahmen, so dass staatliche Ausgaben, die gleichzeitig für Investitionen in den Standort und staatliche Rettungsaktionen beim Platzen von Blasen immer höher ausfallen müssen, auf die Grenzen ihrer Finanzierbarkeit stoßen. Die Folgen sind weiterer Sozialabbau, Einsparungen bei Gesundheit, Bildung etc. mit der Konsequenz wachsender Armut und sozialer Spaltung – begleitet von Privatisierung und Ökonomisierung sozialer Bereiche. Die Individuen, die sichnoch einen der knapper werdenden gut dotierten Arbeitsplätze sichern wollen, stehen unter verstärktem Konkurrenz- und Selbstbehauptungsdruck. Sie müssen sich den Verwertungsbedingungen ihrer Arbeitskraft anpassen und sich als verwertbare Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt inszenieren.

Mitder Krise des Kapitalismus spitzen sich auch die ökologischen Problemlagen zu. Statt die natürlichen ‚Grenzen des Wachstums’ zu akzeptieren, kommt es unter dem Wachstumszwang, der zu immer höherer Produktivität treibt,zu einem immer größeren Verbrauch von Ressourcen, zuEntsorgungsmüll sowie dem das Klima zerstörenden Ausstoß von Schadstoffen. Die Natur scheint  sich in Gestalt von Unwettern, steigenden Meeresspiegeln etc. zu wehren. In seinen Versuchen, die logische und historische Schranke des Verwertungsprozesses des Kapitals zu kompensieren, schlagen ihm die ökologischen Grenzen als äußere Schranke entgegen. Mit sich verschärfender Krise wird es immer unmöglicher, das ‚ökologisch Notwendige’ mit dem ‚ökonomisch Machbaren’ zu vereinbaren. Auch die ökologischen Grenzen markieren das Ende der Möglichkeiten kapitalistischer Entwicklung.

Im Blick auf die Zweidrittelwelt ist das Scheitern von ‚nachholender Entwicklung’ – bereits seit mehreren Jahrzehnten – offensichtlich. Um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein, müssten Länder der Zweidrittelwelt auf dem vom Weltmarkt gesetzten höchsten technologischen Niveau produzieren können. Die dafür nötigen Mittel bereit zu stellen, ist angesichts schwindender Wertschöpfung außer in Nischen aussichtslos. Die Situation der Zweidrittelwelt verschärft sich durch Phänomene wie zunehmendes Landgrabbing sowie internationale Investitions- und Handelsabkommen. Letztere engen verbliebene politische Handlungsspielräume noch einmal ein. In der Zweidrittelwelt zeigt sich nicht nur die soziale und politische Kriseam schärfsten. Auch die ökologische Überlebenskrise zeigt hier ihre dramatischsten Auswirkungen: Katastrophen infolge von Überschwemmungen und Stürmen als Ausdruck des Klimawandels, Bodenerosion, Desertifikation, Wasserverschmutzung, Müllhalden mit Schrott der sog. Industrieländer etc. Kurz: die Zerstörung der ökologischen Grundlagen des Lebens treffen zuerst Menschen in der Zweidrittelwelt in voranschreitenden Zerfallsprozessen.

Die ökologischen Zerstörungsprozesse stoßenauf Staaten, die kaum noch handlungsfähig sind und soziale und politische Strukturen von Produktion und Reproduktion sowie des sozialen Zusammenlebens nicht mehr aufrecht erhalten und die ökologischen Probleme noch weniger bewältigen können als die Länder des globalen Nordens. Im Zerfall von Ökonomien und Staaten wird sichtbar, dass die Vergesellschaftung in der kapitalistischen Polarität von Markt und Staat zerbricht. An ihre Stelle tritt der Überlebenskampf in Plünderungsökonomien, in denen Banden um den Zugang zu verbleibenden Ressourcen und ihre Einspeisung in den Weltmarkt kämpfen. Die ökonomischen, politischen und sozialen Zusammenbrüche einhergehend mit der Zerstörung der ökologischen Grundlagen des Lebens sind ein wesentlicher Grund dafür, dass Menschen fliehen. In den Ländern der kapitalistischen Zentren wird dies als sog. Flüchtlingskrise wahrgenommen. Das Problem sind dann ‚die Flüchtlinge‘, nicht die um sich greifenden Zerstörungsprozesse. Werden sie abgewehrt, scheinen die Probleme gelöst. Die Abwehr von Flüchtenden ist eingebettet in politische und militärische Strategien, systemrelevante Regionen in Schach und funktionsfähig zu erhalten. Systemrelevant sind Regionen, aus denen Rohstoffe bezogen werden, in denen noch funktionierende Märkte zu bedienen sind, oder auch Staaten, die bereit sind, Flüchtende gewaltsam am Überschreiten der Grenzen zu hindern und Abgeschobene jenseits Europas in Lagern unter ihre Kontrolle zu nehmen. Die Grenzen der Länder der kapitalistischen Zentren sollen vor Menschen geschützt werden, die in ihnen eine Chance des Überlebens suchen. Sie werden dabei selektiert in ‚nützliche’, d.h. ökonomisch und sozial ‚verwertbare’ Menschen und in ‚Überflüssige’, die das Land als Standort für die Verwertung von Kapital belasten.

3.2 Die Abspaltung der Reproduktion und die Abwertung von Frauen

In einem jahrhundertelangen von Gewalt geprägtemDurchsetzungsprozess der kapitalistischen Gesellschaft haben sich Wert und Abspaltung als deren Formprinzipien konstituiert. Das Kapital als krisenhafter ‚prozessierender Widerspruch’ kann nicht ohne die Abspaltung der Reproduktion und die Reproduktion nicht ohne den Wertexistieren und agieren. Insofern bestimmen der männlich konnotierte Wert und die Abspaltung der weiblich konnotierten Reproduktion gleichursprünglich die kapitalistische Vergesellschaftung. Die Produktion von Wert und Mehr-Wert setzt die Abspaltung der Reproduktion voraus, während der Bereich der Reproduktion nicht ohne Arbeit und Geld existieren kann. Wert und Abspaltung sind als die gesellschaftliche Totalität bildendes gesellschaftliches Formprinzip grundlegend für alle gesellschaftlichen Sphären und Kategorien: den Staat, der den politischen und rechtlichen Rahmen der ‚Verwertung des Werts’ setzt, ebenso wie fürdas Subjekt als Handlungsträger der im Dienst der Vermehrung des Werts eingesetzten abstrakten Arbeit. Der Wert braucht die Abspaltung als das auch begrifflich nicht einzuordnende Andere, um existieren zu können. Die Abspaltung der weiblich konnotierten Reproduktion stellt die ‚dunkle Kehrseite des Werts’ dar. Als das begrifflich nicht Fassbare, das Psycho-soziale, das im Wert nicht aufgehende Differente und Widersprüchliche bleibt es in der männlich dominierten Kritik des Werts unbeachtet.

Obwohl Wert und Abspaltung in dialektischer Vermittlung gleichursprünglich die Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung bestimmen, erfährt der abgespaltene Bereich eine Abwertung. Reproduktive Tätigkeiten bleiben gegenüber Lohnarbeit, Frauen gegenüber Männern untergeordnet und minderbewertet. Dies gilt auch dann, wenn Frauen sich in Lohnarbeit ‚emanzipieren’. In der Regel werden sie schlechter bezahlt und bleiben meist in eher niedrigeren Positionen. Zugleich bleiben sie, auch wenn sie in Lohnarbeit stehen,vorrangig zuständig für den reproduktiven Bereich, für die Sorge um Kleinkinder und Erziehung, für die Versorgung von Alten und Kranken, für Zuwendung und Emotionalität, also für all das, was menschliches Leben sozial und psychisch für seine Reproduktion braucht.

In der Krise des Kapitalismus verlieren mit dem Dahinschwinden menschlicher Arbeit als Quelle von Wert und Mehrwert nicht nur der Verwertungsprozess und sein staatlicher Rahmen ihre Grundlage, sondern auch die Institutionen von Beruf und Familie. Mehr und mehr muss der Kampf ums Überleben ohne gesellschaftliche Absicherungen geführt werden. Frauen tragen dabeidie Hauptlast der Verantwortung– inzwischen auch im Management und als Krisenverwalterinnen in der Politik –, während Männer sich der Verantwortung zu entziehen suchen. Wie schon seit Längerem in der Zweidrittelwelt zu beobachten war, kommt es auch in den westlichen Ländern zu Situationen, in denen Männer sich davon machen, sich in Alkohol und Drogen flüchten, und Frauen allein zuständig sind für den Kampf um das familiäre Überleben.

3.3 Reflexionslose Verarbeitung der Krise und Verwilderung

Trotz immer dramatischerer Krisenerscheinungen darf die kapitalistisch-patriarchale Konstitution der Gesellschaft offensichtlich nicht angetastet werden. Sie wird aus dem Denken verbannt. So ist das Voranschreiten der Krise von einem Pragmatismus begleitet, der sich in dem diffusen Appell ‚Wir müssen etwas tun‘ Ausdruck verschafft und theoretische Reflexion unter den Verdacht praxisfernen Raisonnierens stellt, das aus der Verantwortung flieht. Der Drang zu unbestimmtem und unmittelbarem Handeln speist sich aus dem dumpfen Empfinden, dass da etwas Bedrohliches seinen Gang geht.

In einem solchen Klima können Pegida, AfD, Identitäre etc. wachsen und gedeihen. In ihnen artikuliert sich das gesellschaftliche Bedürfnis, für komplexe Problemlagen in ‚falscher Unmittelbarkeit’ Schuldige zu konkretisieren. Sie werden angeboten in ‚den Ausländern‘, ‚den Flüchtlingen‘, ‚den BankerInnen‘, ‚den PolitikerInnen‘. Der Hass richtet sich verschärft auch wieder gegen Juden oder die Existenz des Staates Israel. Er äußert sich verbal in Verunglimpfungen von Juden und wird manifest in Anschlägen auf jüdische Menschen und Einrichtungen. Was sich an den vermeintlichen Rändern der Gesellschaft zeigt, ist jedoch kein ‚Randphänomen’, sondern Ausdruck von Vorgängen in der ‚Mitte’ der Gesellschaft, die sich auch im sog. linken Spektrum zeigen: etwa in der strukturell antisemitischen Konkretisierung der Krise des Kapitalismus auf den Casinokapitalismusoder in der Polarisierung von deutschen und ausländischen Armen in der Partei ‚Die Linke’. Solch unmittelbare Konkretisierungen eröffnen vermeintlich Möglichkeiten für ein unmittelbares Handeln. Wenn Schuldige und Verantwortliche identifiziert sind, scheinen komplexe Probleme handhabbar. Sie können scheinbar durch unmittelbares Handeln aus der Welt geschafft werden. Dabei geht die Reaktivierung sexistischer, rassistischer, antiziganistischer und antisemitischer Ressentiments nicht zufällig mit der Abwertung und Selektion von Menschen entlang der Grenze von Arbeit und Nicht-Arbeit einher. Abgewehrt und diffamiert werden Nicht-Arbeitende. Die Palette reicht von Hartz IV-Beziehenden und Flüchtenden, denen unterstellt wird, sie wollten sich ein faules Leben zulasten der Arbeitenden machen, bis hin zur Unterscheidung zwischen einem Einkommen durch Arbeit und Geldeinkommen ohne Arbeit, letztlich zwischen schaffendem und raffendem Kapital.

3.4 Krise des Subjekts

Auch wenn sie nicht begriffen wird, geht die Krise des Kapitalismus ihren katastrophischen Gang und muss von Individuen verarbeitet werden, die ihr Leben in der zerbrechenden Subjektform vollziehen müssen, d.h. als Handlungsträger*innen der abstrakten Arbeit.

Dem Arbeitssubjekt geht die Arbeit aus. Zugleich verliert die Familie als Ort der Reproduktion ihre Grundlage. Das ‚warenproduzierende Patriarchat‘ verwildert. Mit der Arbeit und ihrem Versprechen auf Erfolg und Wohlstand zerbrechen die mit ihr verbundenen Sublimierungsmöglichkeiten bürgerlicher Subjektivität. Angesichts leerer Versprechungen macht Triebaufschub ebenso wenig einen Sinn wie die verbindliche Bindung an ein Objekt. Bedürfnisse schreien immer neu nach unmittelbarer Befriedigung, Probleme nach einer unmittelbaren Lösung durch die Konkretisierung Schuldiger und entsprechend unmittelbare Handlungsstrategien. Der Bezug zur äußeren Welt der Objekte ist grundlegend gestört. Angesichts des Zerbrechens bürgerlicher Subjektivität macht sich ein ‚narzisstischer Sozialcharakter‘ breit. Er steht unter dem Zwang, sich Objekte einzuverleiben oder sie als bedrohlich abzuwehren bzw. sie zu zerstören. In dieser Matrix sind inhaltliche Fragen nur dann bedeutsam, wenn sie in unmittelbarem Bezug auf das eigene Selbst wahrgenommen und verarbeitet werden können bzw. als persönliche Fragen Betroffenheit auslösen und handhabbar sind. Andernfalls werden sie als kränkende Überforderung oder Bedrohung verleugnet, aggressiv abgewehrt oder auch depressiv ignoriert.

Diese Zusammenhänge helfen verstehen, warum Menschen so allergisch – entweder ignorierend oder aggressiv abwehrend – auf anstrengende, komplexe Analysen reagieren, die als ohnmächtig machendoder deprimierend erlebt werden und zudem einen Ausweg in die ‚falsche Unmittelbarkeit’ von Konkretismus und Handlungsfetischismus versperren. Sie halten weder reflektierende Distanz noch die fehlende unmittelbare Handlungsstrategie aus.

Je weiter die Krise voranschreitet, desto mehr drohen reflexionslos werdende Menschen, die zu Subjekten zugerichtet worden sind, in einem autoritären und aggressiven Antiintellektualismus mit der Welt, wie sie ist, zu verschmelzen. Reflexion als die Fähigkeit, neben sich zu treten, um sich selbst und die Verhältnisse distanzierter anzusehen, wird schwieriger. Die Erkenntnis, als vermeintlich selbstbewusstes und mündiges Subjekt, nur Anhängsel oder Material eines Verwertungsprozesses und der mit ihm einhergehenden Abspaltungsmomente zu sein, ist schmerzlich, weil ent-täuschend, d.h. desillusionierend. Dies ist umso schmerzlicher, als sich keine Alternative anbietet, die unmittelbar und im Rahmen der reflexionslos vorausgesetzten und affirmierten kapitalistischen Verhältnisse realisierbar wäre.

3.5 An den Grenzen der Handlungsmöglichkeiten

Als Option in der Krise scheint den reflexionslos auf die Immanenz der kapitalistischen Welt vergatterten Einzelnen nur der individuelle Kampf um das Überleben bzw. der Kampf gegen den Abstieg aus der Mittelschicht. Ob bereits abgestiegene, von Hartz-IV drangsalierte Menschen oder ob von Abstiegsangst geplagte Mittelständler – sie alle sind den belastenden und unabschließbaren Zwängen zur Selbstoptimierung unterworfen. Sie sollen sich fit, d.h. konkurrenzfähig halten für die Verwertung ihrer immer weniger gefragten Arbeitskraft. Obwohl ihr Scheitern an Überforderung und/oder Erfolglosigkeit vorprogrammiert ist, werden sie selbst dafür verantwortlich gemacht. Sie sind gescheitert, weil sie nicht optimal genug waren. Selbstoptimierungsstress und Scheitern schreien nach individueller Entlastung. Sie wird gesucht in reflexionslosen esoterischen Angeboten oder auch in den beschriebenen rechten Orientierungen.

Auf die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten stößt auch die in die kapitalistische Form eingebundene Politik. Sie ist nur handlungsfähig in dem Rahmen, den die kapitalistische Form setzt. Da auch der Staat und mit ihm die ihn gestaltende Politik abhängig sind vom Gelingen des kapitalistischen Verwertungsprozesses, schwinden mit der sich zuspitzenden Krise auch die politischen Handlungsmöglichkeiten. Politik wird zur reflexions- und perspektivlosen Krisenverwaltung. Gleichzeitig gerät sie angesichts der sich verschärfenden Problemlagen immer mehr unter Handlungsdruck. Unter diesem Druck erliegt auch die Politik immer wieder der Versuchung, Entlastung in der jederzeit möglichen Aktivierung rassistischer, sexistischer, antisemitischer und antiziganistischer Stereotype zu suchen.Zudemdroht die mit der Krise voranschreitende Handlungsunfähigkeit der Krisenverwaltungen umzuschlagen in autoritäre Strategien, die weltweit wahrnehmbar sind. Und wo auch den militärischen und polizeilichen Sicherheitsapparaten die ökonomischen Grundlagen zunehmend entzogen sind, erfolgen Verwilderungen eines Existenzkampfes, der im ‚Krieg aller gegen alle’ ausgetragen wird. Diesen fallen nicht zuletzt Arme, Minderheiten und Frauen (bis hin zu Feminiziden) zuerst und in besonderer Weise zum Opfer.

Auch soziale Bewegungen einschließlich der auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung fokussierten ökumenischen Bewegungen verharren im Rahmen der kapitalistischen politischen Form. Auch sie unterwerfen sich reflexionslos der kapitalistischen Krisenkonstitution oder bleiben in ihrer Kritik des Kapitalismus auf halbem Weg stecken. Auch sie lassen sich durch sich zuspitzende katastrophische Prozesse nicht so verblüffen oder irritieren, dass sie zu einer radikalen Kritik des Kapitalismus und damit zur Kritik seiner Formen kämen. Gegen die schlechte kapitalistische Wirklichkeit klagen sie stattdessendie Ideale oder uneingelösten Versprechen der Aufklärung als das ‚Eigentliche‘ der Moderne ein. Damit aber bewegen sie sich wie die den Zwängen zur Selbstoptimierung ausgelieferten Einzelnen sowie die auf diekapitalistischen Formen vergatterte Politik im Rahmen der herrschenden Verhältnisse, die lediglich unter dem Aspekt der Differenz zwischen Wirklichkeit und Ideal kritisiert wird.Dies zeigt sich an Forderungen nach politisch-rechtlichen Regulierungen, nach demokratische(re)n Entscheidungen und ganz allgemein nach Einhaltung der Menschenrechte: All dies bezieht sich auf die Gesellschaftsform von Wert und Abspaltung, die sich nicht mehr reproduzieren kann und die deshalb immer dramatischere Zerstörungen für Mensch und Umwelt mit sich bringt. Die Verwirklichung der genannten politischer Forderungen ist umso mehr zum Scheitern verurteilt, je mehr die Krise voranschreitet.

3.6 Aufklärung als illusionäres Versprechen

Ohne kritische Reflexion der mit der Aufklärung verbundenen Ideale und Versprechen einschließlich der Menschenrechte kann es keinen Ausweg aus dem Gefängnis der zerbrechenden kapitalistischen Gesellschaftsform geben. Zu reflektieren wäre, dass die Aufklärung als vermeintliche Speerspitze des gesellschaftlichen Fortschritts keine zeitlosen Ideale der Menschheit präsentiert, sondern als ideologischer Ausdruck der kapitalistischen Gesellschaft verstanden werden muss. Ihre Kritik muss daher wesentlicher Bestandteil der Kritik des Kapitalismus sein. Wird sie kritiklos als Norm gesetzt, kann nicht in den Blick kommen, dass genau jenes bürgerliche Subjekt, das die Philosophie der Aufklärung propagiert, nicht der autonome, vernünftige und mündige Mensch ‚an sich‘, sondern der Handlungsträger der abstrakten Arbeit ist, der mit dem Dahinschwinden der Arbeit seine Grundlage verliert und verwildert. Gegen die Verwilderung ein ‚eigentliches’, ‚aufgeklärtes’ Subjekt zu setzen, macht keinen Sinn. Seine Vernunft ist die Vernunft jenes ‚Systems des Fortschritts’, das mit dem Voranschreiten der Krise das Leben und die Schöpfung zerstört, und ins Leere läuft. Sie wird als Irrationalität erkennbar, weil sie Ausdruck des irrationalen Selbstzwecks der Vermehrung des Kapitals um seiner selbst willen ist, der ins Nichts läuft und so in die Zerstörung treibt.

Auch die viel gepriesene Mündigkeit und Autonomie des aufgeklärten Subjekts setzt immer schon unreflektiert das Gefängnis der kapitalistischen Formen und damit die Wert-Abspaltungsvergesellschaftung voraus. Keine Eigenverantwortlichkeit, kein politischer Wille und kein staatliches Handeln können diesen Rahmen überspringen. Staat und Recht können von dieser Vergesellschaftung nicht getrennt werden. Der Staat ist nur in diesem Rahmen handlungsfähig, das Recht nur in diesem Rahmen konstitutiv. Herrschaft wird im Kapitalismus zur abstrakten Herrschaft, deren ökonomische und politische Akteure in den vorausgesetzten Rahmen eines abstrakten Systems eingebannt sind. Karl Marx hat in diesen Zusammenhang von einem ‚automatischen Subjekt’ gesprochen und damit deutlich gemacht: Das Subjekt ist den Automatismen eines Systems unterworfen. Sein Wille und seine Handlungsmöglichkeiten sind auf die Spielräume begrenzt, die von den Automatismen des Systems zugelassen werden.

Frei und gleich ist ‚der’ Mensch also nur im Rahmen dieser Spielräume. Auch die proklamierte Universalität seines Rechts auf Leben und Anerkennung im Rahmen der Menschenrechte ist real gebunden an die Verwertbarkeit menschlicher Arbeitskraft als Humankapital bzw. an die Finanzierbarkeit von Menschen, wenn sie als Arbeitskraft nicht mehr verwertbar sind. Alle aufgeklärten Rechte und Ideale setzen also die Rentabilität des Menschen voraus.

Statt das Denken der Aufklärung auf seine immanenten Grenzen hin kritisch zu reflektieren, wird auch dann an seinen Versprechungen festgehalten, wenn die reale Grundlage dafür immer mehr wegbricht. Mit dem Voranschreiten der Krise werden die Spielräume zwischen proklamierten Idealen und der Möglichkeit, sie zu verwirklichen, immer enger. Dieser unbegriffene Widerspruch verbindet sich mit dem Gefühl, ohnmächtig an etwas ausgeliefert zu sein, das da seinen Gang geht. Es ist kein Wunder, dass dieses Gefühl Wut und Hass befördert, die sich in den beschriebenen Tendenzen der Verwilderung der im wörtlichen Sinn haltlosen Subjekte ausagieren.

Gegen rassistische, sexistische, antiziganistische und antisemitische Verwilderungen, gegen den alltäglichen Hass, der sich im öffentlichen Raum als soziale Verwahrlosung in Attacken selbst auf Sanitäter zeigt und sich aggressiv auf alles richtet, was nicht unmittelbar dienst- und verfügbar ist, gegen Wut und Hass, die in den sozialen Medien eine Plattform finden, hilft es nicht, in idealistischer Manier Demokratie und Menschenrechte einzuklagen. Dies dürfte eher dazu geeignet sein, die erfahrene Ohnmacht ideologisch noch einmal zu verdoppeln, weil illusionär etwas eingeklagt wird, das seine Grundlage in der Wirklichkeit des Krisenkapitalismus zunehmend verliert. Im Bewusstsein dieser Grenzen ist es sehr wohl sinnvoll und notwendig, sich für die Erhaltung von Spielräumen der Freiheit gegen Autoritarismus und Rechtsextremismus einzusetzen.