Dorothee Sölle: Moses, Jesus und Marx – Utopisten auf der Suche nach Gerechtigkeit
Das Utopische nannte der arme kleine Mann aus Nazareth mit einem Wort der jüdischen Tradition Gerechtigkeit. “Trachtet am ehesten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch alles andere zufallen.” Es gibt Bibelübersetzungen, in denen dieses Wort Gerechtigkeit seltener auftaucht, als es dasteht. Kann man nicht auch von Milde, Freundlichkeit, Nettigkeit Gottes reden? Hat Gerechtigkeit nicht diesen leichten Beigeschmack von Kommunismus? Sollte man den Ausdruck nicht schon deswegen besser vermeiden? Schließlich ist Marx doch tot!
Aber ich glaube nicht, dass wir Jesus von seinem jüdischen Hintergrund trennen dürfen und ihn zu einem Privaterlöser für Einzelseelen machen dürfen. Da leuchtet doch noch etwas ganz anderes im Christentum auf, das die Kultur von Geld und Genuss, von Gewalt und Karriere, in der wir leben, empfindlich stört. Der Anspruch an uns selber, wie er im Neuen Testament erscheint, war größer, unsere Sehnsucht reichte weiter. Auch wir inmitten der reichen Welt haben diese Sehnsucht, dass wir nicht auf Kosten anderer Kaffee trinken, Bananen essen, unseren Müll in die armen Länder verschieben, sexuelle Lustobjekte kaufen und verkaufen und an exportierten Waffen und Giftgas reich werden.
Auch in uns steckt etwas von dieser Utopie Jesu, dass wir alle, miteinander, den Willen Gottes tun, eine andere Weltwirtschaftsordnung aufbauen als diese mörderische, eine andere Art Frieden suchen als den auf A-, B- und C-Waffen beruhenden. Auch in uns lebt der Wunsch, die Schöpfung des Lebens auf dem kleinen blauen Planeten nicht zugrundezurichten. Auch in uns steckt “das von Gott”, wie die Quäker sagen, diese Kraft, das Leben zu heiligen und es nicht dem Profit unterzuordnen. Jesus ist gekommen, das von Gott in uns wiederaufzuwecken, das will heraus und frei und sichtbar werden.
Dieser Text ist ein Ausschnitt aus: “Moses, Jesus und Marx – Utopisten auf der Suche nach Gerechtigkeit”, erschienen in micha.links (01/2022, 4-11, hier 10).