Ostermarsch Ellwangen 2022 „RETTET DEN FRIEDEN – DIE WAFFEN NIEDER!“

Paul Schobel, Betriebsseelsorger i.R., Böblingen

Bislang kaum bekannte Ortsnamen erweitern nun die Liste jener Städte und Dörfer in der Welt, die man mit den schlimmsten Kriegsverbrechen in Verbindung bringt. Butscha, Busowa, Makariw, um nur drei Namen zu nennen, stehen jetzt schon für tausende, vielleicht gar zehntausende ermordeter Zivilisten in der Ukraine: Vom Fahrrad geknallt, gefesselt, geschändet und gezielt hingerichtet. Verwesende Leichname säumen die Straßen. Niemand hier, der sich nicht voller Abscheu wendet, wenn Massengräber ausgehoben und Tote identifiziert werden müssen. Wen wundert´s, dass nun auch in unserem Land immer mehr Menschen diesen Gräueln mit militärischer Gewalt ein Ende setzen und mit Panzern und Granaten dreinhauen wollen.

Einmal mehr erleben wir in diesen Tagen, welch dumpfe Triebe ein Krieg in den Menschen entfesselt – die sadistische Lust, andere zu schänden, zu quälen und bestialisch zu massakrieren. Kein Krieg in der Menschheitsgeschichte, in dem nicht marodierende, demoralisierte Truppen eine Schleppe der Grausamkeit und des Entsetzens hinter sich her ziehen. Man wollte ja lange nicht wahrhaben, was damals auch die angeblich so ehrenhafte Deutsche Wehrmacht bei ihren Feldzügen angerichtet hatte.

Keine Frage: Kriegsverbrecher müssen gefasst und vor Gericht gestellt werden. Dass in einem Krieg solche Verbrechen geschehen, wundert mich allerdings gar nicht. Warum? Weil der Krieg selbst ein Verbrechen ist. Kein Krieg ist einfach ausgebrochen, wie uns der deutsche Sprachgebrauch glauben machen will. Jeder Krieg wird ver-brochen. Und dieses Verbrechen wird auch im jüngsten Fall logistisch vorbereitet, propagandistisch begleitet und dann brutal vorangetrieben. Nun sterben einmal mehr Zehntausende auf beiden Seiten einen völlig sinnlosen Tod. Auch russische Mütter weinen um ihre gefallenen Söhne. Gespenstisch ragen die Gerippe zerstörter Häuser in den Himmel. Überlebende suchen in den Trümmern nach ein paar Habseligkeiten, um dann zu fliehen und aufzubrechen in eine ungewisse Zukunft. Wer aushält, rennt beim Geheul der Sirenen um sein Leben. Weinende Kinder in Bunkern und U-Bahn-Schächten, klagende Frauen und verzweifelte, auch wütende Männer. Unsere Gedanken gelten heute den leidgeprüften Menschen in der Ukraine. Und immer noch kein Ende in Sicht. Immer lauter wird nun der Ruf nach Waffen und schwerem Gerät, um die Aggressoren zurückzuschlagen.

Der Krieg – das schlimmste Scheusal der Menschheitsgeschichte – tobt wieder auf der politischen Bühne, fast vor unserer Haustür. Wir glaubten ihn schon auf Dauer in der Mottenkiste entsorgt, haben die systematischen Vorbereitungen, das Säbelrasseln der Kriegstreiber und ihre Vorgänger-Kriege nicht wahrnehmen wollen. Nun ist er da – und er ist nicht mehr der alte Gevatter, den die Älteren hier noch kennen. Schon der war schlimm genug. Nun hat man ihn mit einem furchtbaren Arsenal neuer Waffen aufgemotzt, jetzt liegen atomare Sprengköpfe und giftige Granaten in seinem Keller. Nicht auszumalen, was dann geschieht, wenn ein Irrer den „Roten Knopf“ drückt. Da genügt schon ein Versehen, und wir alle verglühen in einem atomaren Inferno oder müssen jämmerlich ersticken. Mir scheint: Das Überleben der Menschheit hängt gegenwärtig nur noch am seidenen Faden einer Befehlsverweigerung. Und ich hoffe und bete zu Gott, dass im Ernstfall verantwortliche Militärs verweigern, was ihnen Idioten befehlen.

Unser Ekel, unsere Abscheu, unser Zorn, unsere Empörung gilt denen, die solche Todesmaschinerien in Ost und West konstruieren und sie nun zum Einsatz bringen. Statt sich damals nach der friedlichen Revolution die Hand zur Versöhnung und zum vertrauensvollen Miteinander zu reichen, statt gemeinsam eine neue Sicherheitsarchitektur zu entwickeln, wurden die Militärblöcke aufgerüstet und ausgeweitet, so dass man sich nun Aug in Aug waffenstarrend gegenübersteht. Wir sind keine Stunde mehr sicher, ob es die NATO nicht doch noch in diesen Konflikt hineinzieht oder sie selbst in die tödliche Falle tappt. Dann Gnade uns Gott, ein „Dritter Weltkrieg“ wird wohl der letzte sein.

Es wird immer offenkundiger: Wenn die Menschheit nicht endlich lernt und politisch durchsetzt, wie man Konflikte human und gewaltfrei regelt, ist ihr Ende besiegelt und nur noch eine Frage der Zeit. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt wird sie in den Abgrund reißen. Wir haben nur noch eine Chance, nämliche diese Kette zu sprengen und den Krieg, diesen jämmerlichen Versager, diese politische Null vom Erdboden zu verbannen. Er hat noch nie etwas zum Besseren gewendet – das geschah allenfalls in den Verhandlungen danach, wenn man sich über Massengräbern und auf rauchenden Trümmern auf eine Nach-Kriegsordnung einigen musste. Man langt sich ans Hirn: Warum nicht schon vorher? Warum musste man erst morden, brandschatzen, niederwalzen, bevor man miteinander spricht?

Krieg, dieses Monster, ist an Primitivität und Dekadenz durch nichts zu überbieten. Ein jeder Krieg ist ein Rückfall in die Un-Menschlichkeit. Er ignoriert, dass Menschen in der Regel mit Herz und Hirn ausgestattet sind. Ich weiß wohl: Manche haben einen Kiesel in der Brust und einen Hohlraum im Kopf. Aber warum lassen wir uns ausgerechnet von Herz- und Hirnlosen die Agenda bestimmen? Und kommen auf keine bessere Idee, als immer wieder Gewalt mit Gewalt zu erwidern?

Krieg ist niemals eine politische Option, er bringt nur Tod und Verderben, zerstört Leib und Seele der Menschen. Schwer traumatisiert haben sich mehr Vietnam-Kämpfer selbst das Leben genommen, als im Krieg gefallen sind. „Gefallen“ – auch so eine Wort-Schalmei. Die sind doch nicht gestolpert, sondern wurden niedergemäht. Wie oft musste ich schon als junger Seelsorger an den Sterbebetten von Weltkriegs-Soldaten erleben, wie eruptiv aus ihnen herausbricht, was sie jahrelang verschwiegen hatten. Dass sie im Tode noch loswerden mussten, was sie auf den Schlachtfeldern angerichtet und was sie dort erlitten haben. „Wir sind zu Tieren geworden, zu Mördern, wir haben aufgehört, Menschen zu sein“, so beschreibt Erich Maria Remarque seine Erfahrungen an der Westfront des 1. Weltkriegs. Jeder Krieg ist ein Verrat an der Menschwerdung. Dem füge ich als Christ hinzu: Damit schlagen wir Gott ins Gesicht, der uns nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat.

Entwaffnend ist nur die Gewaltlosigkeit. Und dafür stehen wir in der Friedensbewegung. Bescheuert, wer glaubt, man könne den Teufel mit dem Oberteufel austreiben. Davor hat uns schon Jesus von Nazareth eindringlich gewarnt. Die beiden werden schnell gemeinsame Sache machen. Krieg zieht unweigerlich Krieg nach sich. „Finsternis kann keine Finsternis vertreiben“, predigte einst der unvergessene Pastor Martin Luther King und fährt fort: „Das gelingt nur dem Licht. Hass kann Hass nicht austreiben. Das gelingt nur der Liebe. Gewalt mehrt die Gewalt. Die Kettenreaktion des Bösen muss unterbrochen werden. Sonst stürzen wir in den Abgrund der Vernichtung.“ Die unvergessliche Berta Suttner, damals als „Friedens-Berta“ verspottet, bringt es mit ihren Worten auf den Punkt: „Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegwaschen zu sollen. Nur Blut, das soll immer wieder mit Blut ausgewaschen werden.“

Ich weiß, die christliche Feindesliebe ist eine Zumutung, der absolute Gipfel jesuanischer Ethik. Viele Getaufte, auch die Bischöfe mogeln sich gerne um sie herum. Und doch ist nur sie in der Lage, die Kettenreaktion der Gewalt zu stoppen: Wenn ich einem Schläger, statt ihm die Fresse zu polieren, auch noch die andere Wange anbiete, wird er beschämt und irritiert. Denn seine Strategie ist nicht aufgegangen.

Nun rächt sich, dass wir jahrzehntelang die Friedensforschung belächelt und keine wirksamen Strategien gewaltfreier Verteidigung eingeübt haben. Manche fürchten, das bedeute Wehrlosigkeit und Kapitulation. Dabei ist gewaltfreie Aktion die stärkste Waffe, weil sich ein ganzes Volk erhebt, Panzer umzingelt, die Aggressoren permanent irreführt, in Gespräche verwickelt und sie so demoralisiert, dass sie nicht mehr weiter wissen. Würde man auf sie schießen, wüssten sie, was zu tun ist.1968 – beim Einmarsch russischer Truppen in Prag hat es nur wenige Tote gegeben, weil man gewaltfrei widerstanden hat. Kleinlaut musste auch 1989 Horst Sindermann, der Vorsitzende des DDR-Ministerrats eingestehen: „Mit allem haben wir an diesem Abend gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten. Sie haben uns wehrlos gemacht.” .

Mit einem Bruchteil dieser einhundert Milliarden, die man nun für die Aufrüstung verpulvern will (in den Rüstungsbuden knallen schon die Sektkorken!), könnte man ganze Kontingente von Friedensarbeiterinnen und -arbeitern ausbilden, als „stehendes Heer“, als „Blauhelme“ der ganz besonderen Art – nicht „Gewehr bei Fuß“, sondern mit bewährten Methoden für gewaltfreien Widerstand und friedliche Konfliktregelung. Sie wären imstande, Gewaltanwendung so absurd und lächerlich zu machen, dass sie letztlich wirkungslos verpufft. Ich weiß nicht, ob solche Konzepte im Ukraine-Konflikt noch zum Tragen kommen. Solche Strategien kann man nicht improvisieren, sie müssten gewollt und eingeübt sein.

Niemand hier wird ernstlich ein Selbstverteidigungsrecht für die Ukraine in Frage stellen. Doch namhafte Militärs bezweifeln, ob militärische Gegenwehr zum Erfolg führen kann. Wenn überhaupt, dann nur um den Preis weiteren sinnlosen Blutvergießens auf beiden Seiten, um den Preis verbrannter Erde und unendlichen Leides. Von der Ukraine wird nur noch ein Schattenriss auf der Landkarte übrig bleiben. Jede weitere Waffenlieferung verlängert die Not und vervielfacht das Sterben. Vor allem aber: Ein Despot vom Schlage eines Putin würde eine Niederlage nicht einfach hinnehmen, sondern zum atomaren Gegenschlag ausholen, um dann ganze Teile der Menschheit in seinen eigenen Untergang hineinzureißen. „Erweiterter Suizid“, nennt man das bei der Polizei.

„Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“, sprühte vor kurzem ein Witzbold auf eine Mauer. Ein Witzbold? Er hat recht: Wir müssen den Krieg verweigern. Als Friedensbewegte sind wir gewohnt, dass man uns als Naivlinge belächelt. Naiv sind heute aber jene, die immer noch glauben, Kriege seien zu gewinnen. Jeder Krieg ist schon mit dem ersten Schuss verloren. Denn in dieser verflochtenen Welt von heute gibt´s nichts zu gewinnen, da können alle nur verlieren. Das merken bei uns inzwischen auch die letzten, spätestens an der Tankstelle! Wir alle werden durch diesen Krieg um Jahrzehnte zurückgebombt. Noch mehr Menschen müssen nun elend verhungern. Jedes verhungerte Kind ist ein ermordetes Kind, das uns mit aufgerissenen Augen anklagt. Denn Rüstung tötet schon ohne Krieg!

Es wird Zeit für eine wirkliche „Zeitenwende“. Eine andere als jene, die in Berlin ausgerufen wurde. Sie lautet: „Nieder mit den Waffen!“ Der Krieg ist sowas von gestern! War is over! Wir werden nicht müde, für den Frieden zu marschieren, für den Frieden zu trommeln.

Als „Jesuaner“ setze ich auf das biblische Motto: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse durch das Gute“ (Römer 12,21).

Wir sind heute hier, um mitten in einem erbärmlichen Krieg die Vision einer gerechten und friedlichen Welt aufrechtzuerhalten. Sie ist nicht kaputtzukriegen. So wenig, wie sie damals den kaputt gekriegt haben, dessen Auferstehung ich morgen in aller Herrgottsfrühe mit meiner Gemeinde feiern will.