75 Jahre Nakba – warten auf den politischen Klimawandel

Eine Meinung von Emil Fuchs-Kittowski

(kritische Anmerkungen gerne im internen Bereich oder an: redaktion@brsd.de)

Mit der Gründung des israelischen Staates am 14. Mai 1948, also vor 75 Jahren, begann für die dort ebenfalls seit Jahrtausenden nicht-jüdisch lebenden (aramäischen/nabatäischen/arabischen u.a. und später hashemitischen/wohabitischen/moslemischen) Menschen – die Nakba, was übersetzt, die Katastrophe, das Unglück, die Flucht, die Vertreibung bedeutet. Das betraf bereits 1948 etwa 800.000 arabische Palästinenser und beträgt mittlerweile Millionen Menschen, die entweder noch in den alten Lagern im Libanon und Jordanien oder im Exil in anderen Staaten leben.

Wenn jedes folgender Ereignisse für sich genommen einmalig, also singulär ist: der Holocaust und die Nakba, eine Verfassungswirklichkeit für Israel, so haben sie das stumme Abwarten des Protestes durch die Zivilgesellschaft und die zunächst stattfindende Vertreibung gemeinsam. Wie die Geschichte um die Vertreibung aus dem Paradies begann, beginnt auch jeder Genozid (Lilith und Tausende ihrer Kinder, die auf Geheiß Adams getötet wurden) mit einer Vertreibung, der Vertreibung aus seiner jeweils bestehenden Rechts- wenn nicht sogar Verfassungswirklichkeit, was einer Vertreibung aus einem Rechtssicherheitsparadies gleich kommt.

Wenn auch der Holocaust, das Schlimmste aller menschlichen Verbrechen darstellt, so war er nicht der erste Genozid des europäischen, us-amerikanischen und anglo-australischen Imperialismus. Mit Blick auf die Nakba wird der Holocaust leider auch nicht der letzte Genozid sein. Zur Begrifflichkeit sollte noch eingeschoben werden, dass heute jüdische Theologen das Ereignis des Holocaust eher als dritten Churban, hebräisch: „Vernichtung“, „Verwüstung“ bezeichnen und damit auch auf die beiden Zerstörungen des Jerusalemer Tempels (586 v. und 70 n. Chr.) als eine alle Nachfahren der Israeliten, also aller Juden betreffende Großkatastrophe, historisch deuten. Erst seit 1985 wird das hebräische Wort Holocaust auch in West-Europa verwendet. Das Wort „Holocaust“ wurde wegen seiner Herkunft aus dem religiösen Opferkult und dessen Verwendung im christlichen Antijudaismus oftmals in Israel als problematisch angesehen. In Israel und im Judentum wird das Verbrechen seit 1948 als Shoa: die „Katastrophe“, das „großes Unglück“ bezeichnet. Daran erinnert seit 1959 der Gedenktag Jom HaSho’a. Besser wäre es also, von “Shoa” zu sprechen.

Doch wollen und dürfen wir in diesem speziellen Fall bei dem Wort Holocaust bleiben und dabei  den historischen Zusammenhang mit Deutschland nicht vergessen, aus dem unsere wirklich spezielle Verantwortung abzuleiten ist! Denn wir haben hier unbestritten eine gravierende historische Verantwortung zu tragen! Deshalb geht um Aufklärung, nicht um Relativierungen, dass heißt aber auch: nichts zu verschweigen und Kritik nach Maßstab des Humanismus zu üben. Die Lehre und Verantwortung aus der Shoa ist: Alles zu tun, dass nie wieder ein Genozid geschied!

Wir müssen aber auch wissen, dass ohne das Versagen der Alliierten und ohne deren ideelle und inhaltliche Unterstützung, ausgehend von der US-amerikanischen Sklavenhaltergesellschaft und der sich daraus entwickelten, bis heute noch wirksamen US-amerikanischen Rassismus, dessen Euthanasie- und Eugenik- Ideen, bis zu der dann durch Nazi-Deutschland zu verantwortende Umsetzung in grausame Wirklichkeit, gebe es sowohl keinen Holocaust, keine Shoa, keine Gründung dieses Staates Israel und damit auch keine Nakba.

Dieser kausale Schluss ist trotz seiner Vereinfachung und Verkürzung unter Historikern erlaubt.

In der politischen Realität existiert heute, nach mehr als 2000 Jahren, Israel wieder.

Israel lebt! Israel soll leben! Israel muss leben! Israel lebt mit dem Versprechen, dass alle Juden auf der ganzen Welt jederzeit Heimat und Zuflucht in Eretz Israel finden werden. Ungeachtet davon, dass in diesem Land auch andere Ethnien leben, mit denen man sich friedlich engagieren muss. Mit anderen Worten: noch wäre dieses historische Unglück der Nakba für beide Seiten friedlich heilbar, wenn es nur den politischen Willen dafür gebe.

Jedoch muss man aufgrund der Zusammensetzung der neuen israelischen Regierung (Kabinett Netanjahu VI) genau das Gegenteil befürchten. Diese Befürchtung hat auch eine Vorgeschichte.  Zum Beispiel in dem durch die 5. Netanjahu-Regierung verabschiedeten „Nationalstaatsgesetz“ vom 19. Juli 2019, welche von Avi Dichter (neuer Minister für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung) seinerzeit eingereicht worden ist.

Darin wird verankert, dass §1 „Das Land Israel, in dem der Staat Israel gegründet wurde, ist die historische Heimat des jüdischen Volkes. Dieser Staat Israel ist der Nationalstaat des jüdischen Volkes, in dem es sein Recht auf nationale, kulturelle, historische und religiöse Selbstbestimmung ausübt. Das Recht auf nationale Selbstbestimmung ist im Staat Israel einzigartig für das jüdische Volk.“; und dass in §3 Jerusalem die „…ganze und vereinigte…“ Hauptstadt ist, dass in § 4 Hebräisch zur alleinigen Nationalsprache erklärt wird, während Arabisch, das in Israel bisher ebenfalls eine offizielle Sprache war, nur einen nicht näher definierten Sonderstatus erhielt. Betont wird auch in § 7, dass jüdische Siedlungen in Israel im Interesse des Nationalstaates seien. „Der Staat Israel sieht im jüdischen Siedlungsbau einen nationalen Wert. Er ermutigt und unterstützt den Bau und die Konsolidierung jüdischer Siedlungen.“ Zu dem sei noch folgender Hintergrund erwähnt: der § 7b sah vor, dass in Zukunft Kommunen entstehen dürften, die Arabern aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit ein Wohnrecht vorenthalten könnten.

Selbst Benny Begin, Sohn des Mitbegründers des Likud und ehemaligen Ministerpräsidenten, äußerte seine Besorgnis dahingehend, dass sich seiner Meinung nach: „…die Likud-Partei, wieder ein Stück weiter weg von den Menschenrechten bewegt.“

Die Diplomaten Shimon Stein und Moshe Zimmermann beklagten öffentlich, dass „…das neue Gesetz die Gleichberechtigung der in Israel lebenden Araber in Frage stellt. …die jüdische Besiedlung des Landes und die jüdische Einwanderung gelten als Grundwerte.

Der erste Satz „Das Land Israel ist…“ eröffne alle Türen für eine Annexion des Westjordanlandes und Tore für den Abschied von der Zwei-Staaten-Lösung und der Demokratie.“.

(Die Kalkulation einer Annexion des Westjordanlandes wurde bereits am Ende der Regierung Netanjahu V angekündigt.)

Erstmals in der Geschichte des Landes gehören auch rechtsextreme, wie Itamar Ben Gvir (Minister für öffentliche Sicherheit) und Bezalel Smotrich (Finanzminister und Minister im Verteidigungsministerium) sowie eine wegen Steuerbetrugs vorbestrafte Person des ultraorthodoxen Flügels Arieh Deri (stellvertretender Ministerpräsident sowie Innen- und Gesundheitsminister) der Regierung an. Für den Vorsitzenden der streng religiösen Schas Partei, Arieh Deri, wurde eigens ein Gesetz noch vor dessen Vereidigung geändert, damit er trotz seiner Verurteilung Innenminister werden kann.

Bezalel Smotrich gilt als glühender Verfechter des Siedlungsausbaus und soll künftig Einfluss auf die Verwaltung des Westjordanlandes und das Leben der dort lebenden Palästinenser erhalten. Smotrich strebt die Legalisierung weiterer israelischer Siedlungen an! 

Selbst der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, ist vorbestraft und wurde wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Neben der Polizei soll er nach einer Gesetzesänderung auch für die Grenzpolizei im Westjordanland zuständig sein.

Noch vor der Vereidigung wurde eine ganze Reihe umstrittener Gesetzesänderungen im Parlament durchgesetzt, Änderungen, die tiefgreifend in das politische System eingreifen und gerade speziell das Justizsystem gezielt schwächen, aber laut Experten auch eine Aufhebung des aktuell laufenden Korruptionsprozesses gegen Netanjahu bewirken könnten. Unbegründet sind diese Bedenken aus Israel nicht, denn diese Regierungsposten wurden an Vorbestrafte, die ein Interesse an der Rechtsbeugung haben könnten, aber auch an Personen die bekannter Weise eine Politik der endgültigen finalisierten Nakba vertreten, verteilt.

Geht es Benjamin „Bibi“ Netanjahu noch um Israel?

Oder geht es ihm nur darum den Rechtsstaat so zu deformieren, um sich selbst, der Korruptionsvorwürfe wegen, vor dem Gefängnis zu bewahren? Das jedenfalls ist die immer wiederholte Frage der vielen mehrheitlich jüdischen Menschen, die zur Zeit zu Tausenden in Israel auf der Strasse demonstrieren gehen.

Das Existenzrecht Israels wird von uns nicht bestritten! Eineindeutig!

Ebenso muss man das Existenzrecht Palästinas gleichzeitig auch anerkennen!

Obwohl es 1942 auch schon anders denkende Zionisten, zionistische Flügel oder jüdische Bürger gab, wurde bereits 1942 im Biltmore Hotel und dann 1944 in Atlantic City nochmals, von der Jahresversammlung der Amerikanischen Zionistischen Organisation Anspruch erhoben auf: „…das gesamte Territorium.“! In der Resolution von Biltmore (1942) hatte man für die in Palästina lebende arabische Mehrheit noch großzügig „Minderheiten Rechte“ eingeräumt.

1944, in Atlantic City, wurden die in Palästina lebende Araber schon gar nicht mehr erwähnt.

Der britische Zionist Israel Zangwill prägte die Formel: „Ein Land ohne Volk, für ein Volk ohne Land“, wissentlich manipulativ, im Wissen um die Falschheit dieser Aussage! 

Hannah Arendt beschrieb diese Entwicklung als eine sich „…hinter der verharmlosenden Formulierung, eine Politik der ethnischen Säuberung“ verbergende Politik befindet. Diejenigen, die vor geplanter ethnischen Säuberung warnten, wurden als Faschisten und Antisemiten gebrandmarkt, obwohl entsprechende Zitate belegen, dass man jenes eher den Denunzianten vorhalten könnte:

Theodor Herzl: „[Araber]…unbemerkt über die Grenze zu schaffen, in dem wir ihnen in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unseren eigenen Lande jederlei Arbeit verweigern.“;

Moshe Scharet (späterer Außenminister): „Umsiedlung kann der krönende Abschluss, das letzte Stadium der politischen Entwicklungen,… sein“;

Israel Zangwill: „…die [arabischen] Stämme mit dem Schwert zu verjagen…“;

Ben Gurion: „…unsere Absicht, die Araber zu verjagen, zu enteignen und ihr Land zu übernehmen…“, „Die Zwangsumsiedlung der Araber aus den Tälern des vorgeschlagenen jüdischen Staates könnte uns zu was verhelfen,…“;

„…würde ich gefragt, was unser Plan ist, würde ich im Traum nicht sagen >Umsiedlung<…dieses Gerede kann uns auf zweierlei Weise zum Nachteil gereichen.“ und

(aus dem Zionistischen Zentralarchiv S100/42b, Vorstandssitzung der Jewish Agency berichtet):

Ben Gurion: Da „…kein Volk in der Geschichte […] sein eigenes Land aus freien Stücken“ aufgegeben hat, war er sehr wohl für: „Zwangsumsiedlungen“ und fand daran „nichts Unmoralisches„   →  ebenda.

Zu alledem wurde in den israelischen Archiven ein Plan der Hagana mit dem Namen: „Plan Dalet“ gefunden, demzufolge die örtlichen Kommandeure arabische Dörfer: „zu erobern, zu säubern oder zu zerstören“ nach eigenem Ermessen erlaubt wurde.

Natürlich ist der israelische Staat nicht auf der Grundlage eines Völkermordes an den Arabern gegründet worden! Das wäre eine unzulässige Überhöhung oder eine unzulässige Banalisierung anderer Genozide. (Einer Aushöhlung dieses Begriffes bis zu seiner Bedeutungslosigkeit, müssen wir genauso entgegenwirken.)

Dennoch darf man sich nicht davor verschließen, dass die fortwährende Vertreibung, gekoppelt an Besatzung, tödlicher Gewalt und permanenter Vertreibung sowie 3-fach unterschiedlichem Recht, auf einem zu einem Staatsgebiet erklärten Gebiet, in der Summe dann zu einem Genozid hat werden können.

Mit anderen Worten: Ohne jeden Zweifel ist der Völkermord an den europäischen Juden von einer völlig anderen Dimension und anderem Charakter als die Nakba.

Doch die Nakba ihrerseits hält als Entrechtung an, und viele Palästinenser sehen sich seit über 75 Jahren als die Geisel, für ein europäisches Verbrechen.

Schon aus diesem Grund darf auch die Nakba für uns kein Tabu sein!

Das israelische Ministerium für Kultur und Sport verbot 2008 die Verwendung des Wortes Nakba in arabischsprachigen Schulbüchern. Es gebe „…keinen Grund, die Gründung des Staates Israel in offiziellen Unterrichtsprogrammen als Katastrophe darzustellen.“ erklärte Minister Gideon Saar. In der Gründung des israelischen Staates eine Katastrophe zu sehen, war sicherlich nie der Gedanke.  Jedoch aus Sicht der Betroffenen, sollte der Verlust der eigenen Souveränität, am selben Tag wie der der Staatsgründung Israels, genug Grund für deren Trauer sein?

Im März 2011 beschloss die Knesset ein kontroverses Gesetz, dass das Gedenken an die Nakba zwar nicht verbietet, aber z.B. dem Finanzministerium erlaubt, staatliche Förderungen für Institutionen die der Nakba gedenken zu kürzen. Betroffen sind auch all jene, die Israel nicht als jüdischen Staat anerkennen wollen. Dieses „Gesetz“ wurde 2012 vom Obersten Gericht Israels bestätigt.

Was frühere Generationen zu verschweigen beschlossen, wollen heutige Generationen lieber verdrängen, während die Machthaber und das Kabinett Netanjahu VI. sich womöglich auf den finalen Streich vorbereiten. Denn zurückkommend auf ein Rechtssicherheitsparadies auf der Grundlage einer Verfassungswirklichkeit, konnte man sich bisher auf eine Rechtssicherheit stützen, obwohl es in Israel gar keine Verfassung, kein Verfassungsgericht und keine Zweite Kammer gibt.  

Nur um wie viel fragiler wird ein solches System gegen Angriffe von innen, wenn wie heute die Neutralisierung der Justiz und des Obersten Gerichtshofes das Ziel ist?

Sind die verfassungsrechtlichen Bindungen, einmal zerstört, wird die Justiz von willfährigen Befehlsempfängern durchsetzt, der Oberste Gerichtshof keine Kontrollfunktion mehr haben und dieser von uns (noch) demokratisch gerufener Staat längst schon eine Autokratie oder Parteien-Oligarchie sein.

Uns ist es doch immer Recht gewesen, wenn wir uns nie gegen die Politik des Staates Israel positionieren mussten, allein schon aus Sorge, als Antisemit denunziert zu werden. Doch was wird, wenn wir uns plötzlich eingestehen müssten, der Staat Israel ist längst nicht mehr demokratisch?

Viel Schlimmer würde es all die Juden weltweit treffen, wenn ein solcher „neuer“ jüdische Staat Millionen von Juden sein Schutzversprechen entzieht, nur weil es den Theokraten nicht orthodox genug erscheint, wie jene ihre Religion praktizieren!

Auf die Nakba und die sich vollziehende Geschichte zurückkommend:

Welcher „jüdische Staat“ ist für uns gemeint, dem Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel uneingeschränkte Solidarität schwor, wenn aus völkerrechtswidriger Besatzung (UNO-Resolutionen), eine De-Facto-Annektion wird und sich diese Menschen in ihrer völligen Schutzlosigkeit und Entrechtung der freien, unkontrollierten und lynchartigen Gewalt, im rechtsfreien Raum, der Siedler gegenüber sehen?

Was würde es dann bedeuten für den Staat Israel zu sein?

Für welches Israel?

Wem genau sollte dann noch die „uneingeschränkte Solidarität, als Staatsraison der Bundesrepublik Deutschland“, die schon aus anderen Gründen für uns tödlich und unrealistisch gewesen ist, gelten? 

Natürlich sind wir der Pflicht nicht entbunden, mahnend des Holocaust zu gedenken!

Nie wieder darf ein Genozid geschehen!

Natürlich werden wir zur Nakba nicht Holocaust sagen, es gab nur einen Holocaust und die Nakba heißt Nakba. Dies ändert nichts daran, dass aus der Nakba schleichend auch ein Genozid wurde.

Dabei will man uns in der unendlichen Suche nach den politisch korrekten Begriffen ablenken und Sprachverbote erteilen, die uns nicht erlauben, ein System von 3 unterschiedlichen Rechtsnormen (Zivil-, Besatzungs-, und Militär- Recht) das auf einem Gebiet, bei gleichzeitiger Unterteilung der Bürger nach unterschiedlichen Ethnien, unterschiedliche und teils willkürlicher Anwendung findet, Apartheid zu nennen. […heid ist wie das englische: hood = also Neighborhood = Nachbarschaft und Apart = teilen = Aufteilung der Nachbarschaft] Wen diese Begrifflichkeit stört, der kann doch ohne Probleme für den oben beschriebenen Zustand einen neuen Begriff finden oder erfinden.

Gemessen an dem was in Israel wirklich passiert, entgegen dem, mit welchem Aufwand Antisemitismus-, statt Anti-Diskriminierungs- Behörden, oder Diskussionen zur Findung von Begriffen bei uns geschaffen werden, oder wie lange und intensiv wir darüber streiten, was Israelkritik und was Antisemitismus ist, werden wir auf die realen Gefahren für die Zukunft und den Frieden in dieser Region denkbar schlecht vorbereitet sein!

Denn wir hier, und die dort, richten es sich in ihrer jeweiligen Sphäre so ein, dass es neben den brennendsten Fragen zwischen LGBTQ, Unisex-WCs und kriminell korrupter Regierung keinen Platz mehr gibt, sich gegen die Vertreibung aus dem Verfassungsparadies zu wappnen.

Wie haben wir gegen nationale und undemokratische Entscheidungen der Polen und der Ungarn gewettert, hier aber warten wir auf Godot und einen politischen Klimawandel? 

 Gerhard Emil Fuchs-Kittowski

Vorstandsvorsitzender des Deutschen Friedensrats

Vorstand in der Internationalen Liga der Religiösen Sozialisten, ILRS

Vorstand im Bund der Religiösen Sozialisten Deutschland, BRSD

Kommentare (8)

  • Reinhard Gaede schrieb dazu:
    Aus Wikipedia:
    “Die Bezeichnung der Judenvernichtung als „Holocaust“ wurde wegen der Herkunft des Wortes aus dem religiösen Opferkult und der früheren Verwendung im christlichen Antijudaismus oft als problematisch angesehen.[3] In Israel und im Judentum wird das Verbrechen seit 1948 als Shoa („Katastrophe“, „großes Unglück“) bezeichnet. Daran erinnert seit 1959 der Gedenktag Jom haScho’a. Seit 1985 wird das hebräische Wort auch in Europa für den Holocaust verwendet. Jüdische Theologen bezeichnen das Ereignis mitunter als dritten Churban (hebräisch: „Vernichtung“, „Verwüstung“) und deuten es damit wie die beiden Zerstörungen des Jerusalemer Tempels (586 v. und 70 n. Chr.) als eine alle Nachfahren der Israeliten, also alle Juden betreffende Großkatastrophe.”

    Besser wäre es, von “Shoa” zu sprechen.

  • Ich weiß, dass ein heißes Eisen ist. Wie auch immer man die Vergangenheit bewertet und interpretiert: Für mich ist es Fakt, dass der israelische Staat zur Zeit die größere Handlungsmacht inne hat, Veränderungen, Frieden und eine Zwei-Staaten-Lösung herbeizuführen. Die Palästinenser haben kaum bis keine Möglichkeiten für Veränderungen, da sie keinerlei Macht haben. Ich habe das in meinen 13 Monaten als ich in Israel gelebt habe, deutlich wahrgenommen. Die jetzige Verantwortung für Friedensentwicklungen liegen für mich daher stark auf israelischer Seite und die jetzigen Entwicklungen sind besorgniserregend… @Gerhard: Danke für den Beitrag.

  • Gerhard Emil Fuchs-Kittowski

    Es gab bereits 2 Kommentare, was mich sehr freut! Es freut mich mit Euch in eine Diskussion zu kommen, die auch sehr gerne kontrovers sein sollte – da es zu allem auch immer unterschiedliche Perspektiven, wie auch unterschiedliche Biographien geben wird.
    Zunächst Vielen Dank an Reinhard Gaede,
    dessen Hinweis ich sofort in diesen Text eingearbeitet hatte. Mir erschien dies gerade wegen des “heißen Eisens” wichtig, hier diesen Hinweis auf die Begrifflichkeiten zu berücksichtigen.

    Den Kommentar von Tobias freut mich ebenfalls sehr. Und wenn ich diesen Kommentar werten dürfte, dann werde ich ihn für mich und den Nakba-Artikel als eine positive Reaktion werten.
    Ich freue mich jedenfalls darüber, gerade auch weil dieser Kommentar von jemanden kommt, der auch mit 13 Monate in Israel lebend, Einiges vor Ort mitbekommen haben wird.
    Doch um die Diskussion erst richtig anzuheizen möchte ich zu diesem Kommentar noch folgendes hinzufügen:
    Ich stimme Tobias bis auf einen Punkt volkommen zu. Jedoch war ich noch nie ein Verfechter der 2-Staaten-Lösung. Als dann aber die Oslo-Verträge zwischen Rabin und Arafat so als Zukunftsweisend gefeiert wurden, war ich ebenfalls begeistert optimistisch und stellte mein denken zu diesem Punkt zurück. Abgesehen das was dort geschehen wird auch nur die Menschen vor Ort selbst entscheiden und ich für die “Nichteinmischung in innere Angelegeheiten” (KSZE-Schlußakte von Helsinki, 1975) – kann man aber sich dennoch eine Meinung bilden bzw. auch in die Zukunft formulieren, wie man diveres Initiativen einschätzt.
    Also, ob 2-Staaten-Lösung oder nicht, dass wird von den hoffentlich friedlichen Abstimmungen und Wahlen vor Ort entschieden. Nur auf Grund meiner Kenntnis auch der Geopolitischen Lage und der Ergebnisse der Siedlungspolitik Israels, erschien diese 2-Staaten-Lösung von Jahr zu Jahr unrealistischer, weil es kein zusammenhängendes Gelände mehr für einen palestinensischen Staat gibt. Das ist die einfachste Erklärung, es gibt noch andere Gründe die mittlerweile dagegen sprechen, sowohl historische, als auch aktuelle Gründe der Verteilung von Wasser und Energie, oder einfachste wirtschaftliche Infrastrukturen.
    Mit 2 Staaten ist auch nur dann eine friedliche Zukunft erzielbar, wenn beide souverän exestieren könnten.
    Davon abgesehen wurde selbst bei den frühen Zionisten, die nicht zu den konservativen Zionisten gehörten, nicht von einer 2-Staaten-Bildung ausgegangen. Im Gegenteil, die frühen Zionisten gingen immer von Kooperationen und dem friedlichen Miteinander aller in Eretz-Israel lebenden Menschen aus.

  • Lieber Gerhard, du hast vollkommen Recht – eine Zwei-Staaten-Lösung ist eigentlich nicht mehr realistisch. Wahrscheinlich werden viel eher kleine Reservate bleiben, wie bei den indigenen UreinwohnerInnen in Amerika. Die Erinnerung an die Nakba halte ich für wichtig und ebenso die Kritik, dass in Israel Menschenrechte für arabische Bevölkerungsgruppen tagtäglich ausgehebelt werden und gegenwärtig die Demokratie am kippen ist.
    Der Staat entwickelt sich meines Erachtens so zu einem Aggressor-Staat.

    • Gerhard Emil Fuchs-Kittowski

      Lieber Tobias! Ja, ich muss Dir (leider) zustimmen! Und ich möchte Deine Worte noch mit etwas ergänzen:
      Wenn unsere Erinnerungs- und Mahnungs- Kultur nicht mit Inhalten und aktuellen Gegebenheiten entsprechend lebendig gehalten wird, verkommt sie zu einem routine-touristisch verklährten Ereigniss, dass sich nur noch an Orten und Terminen vollzogener hohler Trauer entlanghangelt.
      Es wird dann immer gesagt: “wir Nachgeborenen tragen zwar keine Schuld, dafür aber Verantwortung!”
      Echte Verantwortung, könnte u.a. in einer Außenpolitik sichtbar werden, wo die Belange der betroffenen Menschen aufgegriffen und diese dann gefördert werden. Das wäre dann gelebte Verantwortung in Erinnerung und Erneuerung unserer eigenen Geschichte, besser jedenfalls, als nur Termine mit Hochglanzreden wahrzunehmen.
      Ich gebe ein Beispiel:
      Am 28. Dezember 1977 wurde nach einer Rede des Ministerpräsidenten Menachem Begin in der Knesset über eine Erarbeitung einer gemeinsamen Verfassung mit knappen JA abgestimmt. Ich dieser Rede, wuden auch schon die Eckpunkte einer Verfassung, als Friedensinitiative, festgelegt. Warum dies nie umgestzt wurde entzieht sich meiner Kenntnis.
      Jedoch sehe ich hier, im Sinne der oben beschriebenen Verantwortung, eine Möglichkeit für ein deutsches Engagements, diese aus Israel selbst heraus entstandene Initiative, zu unterstützen. Aus heutiger Sicht, wird man wahrscheinlich sagen, dass diese vorgeschlagene gemeinsame Verfassung noch einige Mängel hatte, Sie ist jedenfalls gut genug, sie als Blaupause für eine neue Friedensinitiative zu verwenden!
      Israel und Palästina würden dann ein Land, eine Republik, mit zwei Kammern und was dazu gehört sein!
      Stattdessen wird so ein Vorschlag diffamiert (von wem? und warum? – qui bono?), oder vergessen gemacht, wird totgeschwiegen, am Status Quo (wie Du schon richtig gesagt hattest) festgehalten und eher lieber (mit den USA im Rücken, im Nahen- und Mittleren Osten) gezündelt.
      Doch was gab es nicht alles schon für Versuche, warum dann nicht diesem Versuch eine Chance geben, wenn doch alle Anderen nicht funktionierten oder stecken geblieben sind? Entscheidend ist, dass nur ein dauerhafter Frieden in der Region das unbestrittene Existenzrecht Israels gravierend sichern wird. Im Rahmen unserer Verantwortung, wäre doch eine Unterstützung dieser Initiative Umsetzung gelebte Erinnerung.
      –> Einige Quellen:
      Rede des israelischen Ministerpräsidenten, Menahem Begin, vor der Knesset am 28. Dezember 1977 mit den israelischen Verhandlungsvorschlägen für eine Friedensregelung (Auszug)«, Europa-Ar-chiv 1978, H. 4, D 120–124. (Eine vollständige englische Übersetzung von Begins Rede findet sich auf der website des israelischen Außenministeriums: »103 Statement to the Knesset by Prime Minister Begin, Presenting Israel’s Peace Plan, 28 December 1977«,
      https://www.mfa.gov.il/MFA/ForeignPolicy/MFADocuments/Yearbook3/Pages/103%20Statement%20to%20the%20Knesset%20by%20Prime%20Minister%20Beg.aspx

      Israeli Prime Minister Menachem Begin’s Autonomy Plan|CIE; ….Fünf Wochen nachdem der ägyptische Präsident Anwar Sadat im November 1977 nach Jerusalem geflogen war, um die ägyptisch-israelischen Verhandlungen zu beschleunigen, überbrachte Menachem Begin Präsident Jimmy Carter Israels Antwort auf Sadats Friedensinitiative: politische Autonomie für die Palästinenser im Westjordanland und in Gazas. israeled.org , israeleducation.org
      https://israeled.org/resources/documents/israeli-prime-minister-menachem-begins-autonomy-plan/

      https://jcpa-lecape.org/wp-content/uploads/2017/10/Statement-to-the-Knesset-by-Prime-Minister-Begin-presenting-Israel.pdf

  • Johannes Michael Helsper

    Lieber Gerhard,

    Du schreibst “Wenn auch der Holocaust, das Schlimmste aller menschlichen Verbrechen darstellt, so war er nicht der erste Genozid des europäischen, us-amerikanischen und anglo-australischen Imperialismus. Mit Blick auf die Nakba wird der Holocaust leider auch nicht der letzte Genozid sein.” – Dies interpretiere ich als (D)eine Klassifizierung der Nakba als Genozid/Völkermord.

    Eine solche Ausweitung des Völkermordbegriffes entgegen seiner engen Bestimmung im internationalen Recht auf das organisierte (planmäßige) Auslöschen/Töten einer Menschengruppe sehe ich kritisch. Aktuell erleben wir einen inflationären Gebrauch des Begriffes, nicht zuletzt zur Nutzung als “Waffe” im politischen Meinungsstreit (z.B. Bundestagsentscheidung zum Holodomor!). Deshalb bin ich in diesem Fall für begriffliche Vorsicht!

    Selbstverständlich ist für mich die Nakba ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ein rechtlich wesentlich weiter gefasster Begriff.

    Insgesamt finde ich Deine einleitenden Fakten und die Shoah-Reflexionen etwas “dünn”, die Faktenlage rund um die Entstehung des Staates Israel ist durchaus komplizierter, z.B. gab es auch die Vertreibung jüdischer Menschen aus palästinensischen Gebieten!

    Einig sind wir uns durchaus im zweiten Teil Deines Beitrags, der aktuellen Gefährdung der Demokratie in Israel mit ihren negativen Folgen für die gesamte Region und die zentrale Verantwortung des Staates Israel für einen dauerhaften Frieden in der Region!

  • Johannes Michael Helsper

    Lieber Tobias, da brauche ich noch eine klarere Kontextangabe zum Apartheidsbegriff! Apartheid in der innerjüdischen Einschätzung der Nakba?

    Zur Differenzierung der hier vorgelegten Argumentation ist gerade ein wichtiger Artikel in der taz erschienen!!!!
    Stephan Grigat, Der israelische Unabhängigkeitskrieg 1948, wochentaz 06. Mai S.39f.
    Zitat:
    “Doch auch wenn Teile der zionistischen Bewegung sich früh für eine Trennung zws. jüdischer und arabischer Bevölkerung ausgesprochen hatten und insbesondere die rechtsgerichteten Milizen auch eine entsprechende Politik verfolgten, waren Flucht und Vertreibungen im Rahmen des Krieges nicht das Ergebnis einer von der zionistischen Führung lange geplanten Strategie. Sie waren stattdessen Resultat eines kriegerischen Konflikts, den die arabische Seite nach ihrer Ablehnung des UN-Teilungsplans vom Zaun gebrochen hatte.”

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