Eskalation und kein Ende in Sicht

Zur gefährlichen Dynamik des einjährigen Kriegs in der Ukraine

Der von Russland ausgehende Krieg gegen die vom Westen unterstützte Ukraine dauert bereits ein
Jahr, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Im Gegenteil, er hat – nicht zuletzt befeuert von westlichen
Waffenlieferungen an die Ukraine, aber womöglich auch chinesischen an Russland – zu immer
wieder neuem Leid und immensen Zerstörungen geführt: 200.000 tote Kämpfer, 50.000 zivile
Opfer, über 8 Millionen Flüchtende, sowie völlig
zerstörte, verseuchte oder verminte Landstriche immer größeren Ausmaßes. Was angeblich
verteidigt werden soll, droht in Schutt und Asche gelegt zu werden. Der Krieg droht mehr und mehr
zu einem Abnutzungskrieg zu werden, in dem beide Seiten ihre Erfolge in den Todeszahlen der
anderen messen.
Von westlicher Seite her ist mit der Lieferung von Kampfpanzern eine neue Stufe der Eskalation
erreicht. Kaum ist die Entscheidung gefallen, ertönen auch schon die Rufe nach der Lieferung von
Kampfjets. Je länger der Krieg dauert, desto mehr wächst das Risiko, weiterer Stufen der
Eskalation, angeheizt von Überbietungen in dem, was an Waffen gefordert wird – zuletzt sogar
völkerrechtlich geächtete Streumunition. Nicht nur die neue russische Offensive, auch die Ukraine
trägt militärisch zur Eskalation bei, etwa durch ihren Drohnenangriff auf den russischen Stützpunkt
Engels. An diesem Stützpunkt sind atomwaffenfähige Bomber stationiert.
Nicht weniger erschreckend als die Prozesse der Eskalation sind Einfältigkeit und
Eindimensionalität, mit der die Eskalation legitimiert wird. Es ist einfältig anzunehmen, die
Lieferung von Waffen und die Ausbildung ukrainischer Soldaten an ihnen könne als Nicht-
Beteiligung am Krieg weginterpretiert werden. Eher plauderte die deutsche Außenministerin die
Wahrheit aus, als sie während der Parlamentarischen Versammlung des Europarats – gleichsam in
einer freudschen Fehlleistung – formulierte: „Wir kämpfen einen Krieg gegen Russland und nicht
gegeneinander.(2) Darin findet ihre frühere Rede, Russland müsse vernichtet werden, ihre
Fortsetzung. Eindimensional ist auch die Personalisierung der Auseinandersetzung auf Putin, der als
Personifikation des Bösen dargestellt wird, während die vom Westen unterstützte Ukraine und
natürlich der Westen selbst für das ‚Gute‘ stehen. Das ‚Böse‘ ist die aus dem Kontext der NATO-
Osterweiterung und des Kampfes um Einflusssphären herausgelöste russische Aggression. Das
‚Gute‘ ist die heldenhafte Verteidigung der Ukraine, wobei die Landesverteidigung als Legitimation
mehr und mehr von der Erzählung des Kampfes um die Freiheit des Westens abgelöst wurde – und
das ungetrübt von jeder Reflexion, dass die Verteidigung der Freiheit des Westens mit Strategien
von ‚Regimewechseln‘, Bruch des Völkerrechts, Unterstützung von Diktatoren einhergeht –
angefangen bei der Installierung des Mörderregimes Pinochets, der Verminung von Häfen in
Nicaragua bis zu den Kriegen im Irak oder Libyen und selbstverständlich mit
menschenverachtenden Repressionen gegen Geflüchtete und Migrant*innen. Die Legitimationen
für die Eskalation bewegen sich in einem abstrakten Moralismus, der ebenso wenig eine
Verbindung zur Realität der Verhältnisse erkennen lässt wie die abstrakte Phraseologie von Freiheit
und Demokratie.
Auf der Linie der hypermoralisierenden Logik des Kampfes des Guten gegen das Böse liegt auch,
dass alle Verhandlungsmöglichkeiten ignoriert wurden und keine politische Strategie erkennbar ist,
den Krieg zu beenden. Zuletzt berichtete der ehemalige israelische Ministerpräsident Naftali
Bennett davon, wie im März 2022 die Friedensverhandlungen in erster Linie von Großbritannien
und den USA torpediert wurden.(3) Einzig Militarisierung auf allen Ebenen soll das ‚Böse‘ zum
‚Guten‘ wenden. Inzwischen gibt es Anzeichen dafür, dass diese Rhetorik durchbrochen werden
könnte, wenn selbst die Pentagon-nahe RAND Corporation davon spricht, dass der Konflikt
militärisch nicht zu lösen sei.(4) Ob das aber wiederum eine Chance hat bis zu den handelnden
Politiker*innen vorzudringen, scheint zweifelhaft bei all dem grünen und liberalen Kriegsgeschrei
und Joe Bidens Zusage weiterer hunderter Millionen an Militärhilfe für Kiew.
Am problematischsten ist – darauf haben wir in unserer ersten Stellungnahme vom März 2022
nachdrücklich hingewiesen (5) -, dass Russlands Angriff auf die Ukraine und deren westliche
Unterstützung nicht im Zusammenhang des zerbrechenden globalen Kapitalismus begriffen wird.
So wird ignoriert, dass das Problem zerbrechender Staaten, dem schon an der Peripherie militärisch
nicht beizukommen war, sich immer weiter auf der Ebene globaler Konstellationen entfaltet, in
denen keine Weltmacht mehr dazu in der Lage ist eine hegemoniale Stellung einzunehmen. Statt
nüchtern das Scheitern des Kapitalismus als Weltsystem zu registrieren und seine Abwicklung
anzugehen, kommt es zu irrationalen Kämpfen um die Sicherung und Ausweitung von
Einflusssphären. Wie die Zerstörung der Lebensgrundlagen, Flucht und Migration, zunehmende
(Bürger-)Kriege, Repression gegen diejenigen, die für die Verwertung von Kapital überflüssig sind,
deutlich machen, geht mit dem Kapitalismus die Tendenz einer Zerstörung bis hin zur
Weltvernichtung einher. Sie speist sich aus der Irrationalität, mit der der Globus scheinbar
alternativlos dem Zweck der Vermehrung von Kapital um seiner selbst willen und der Abspaltung
der Bereiche der Reproduktion unterworfen wird. Diese Irrationalität könnte die Irrationalität eines
nuklearen Krieges befeuern – ob im Einsatz strategischer Atomwaffen oder in der
(un-)beabsichtigten Zerstörung von Kernkraftwerken. Die dem Kapitalismus innewohnende
Tendenz zur Vernichtung würde in der unbegriffenen, auf Zerstörung zutreibenden globalen Krise
nuklear exekutiert. Die Vernichtung der anderen würde zur Selbstvernichtung. Eine einfältige und
eindimensionale Wahrnehmung könnte dies noch als Ausdruck der Bereitschaft deuten, die eigenen
Werte bis in den Tod heldenhaft zu verteidigen.
Als Ökumenisches Netz widersprechen wir den Leitungen der evangelischen wie der katholischen
Kirchen, die im Einklang mit den herrschenden gesellschaftlichen Deutungen und – katholisch – in
der Einheit von ‚Oberhirten‘ und ‚Oberlaien‘ die Lieferungen von Waffen ökumenisch
einvernehmlich ‚abgesegnet‘ haben. Sie hatten ihre gesellschaftliche Pflicht getan und zu möglichen
Friedensprozessen nichts mehr zu sagen. Anschlussfähig an herrschende Stimmungslagen zu sein,
ist den Kirchen offensichtlich wichtiger als ihre Anschlussfähigkeit an biblische Traditionen und
eine kritische Sicht der gesellschaftlichen Situation. Das Desaster des kirchlichen Konformismus
mit den gesellschaftlichen Verhältnissen ist Ausdruck der jahrelangen kirchlichen Fixierung auf die
Sicherung ihrer institutionellen Interessen, ihrer verzweifelten Versuche, als ‚unternehmerische
Kirchen‘ verlorenen Einfluss zurück zu gewinnen, sowie der damit einhergehenden Ignoranz
gegenüber gesellschaftlichen Problemen und den Versuchen, sie im Rahmen kritischer
Gesellschaftstheorie zu verstehen.
Es bleibt zu hoffen, dass sich in der sog. Zivilgesellschaft kritische Stimmen Gehör verschaffen, die
es zumindest schaffen, dem Rad, das sich in immer weitere gefährliche Stufen der Eskalation dreht,
in die Speichen zu greifen
.

Geschäftsführender Vorstand des Ökumenischen Netzes Rhein-Mosel-Saar

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    2) Kölner Stadt-Anzeiger vom 28./29.1.23.

    3) Vgl. Berliner Zeitung vom 6.2.23, https://www.berliner-zeitung.de/open-source/naftali-bennett-wollte-den-frieden-
    zwischen-ukraine-und-russland-wer-hat-blockiert-li.314871.
    4) Vgl. Berliner Zeitung vom 2.2.23, https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/militaer-analyse-ukraine-
    geopolitik-us-denkfabrik-rand-corporation-diesen-krieg-kann-keiner-gewinnen-kehrt-jetzt-vernunft-ein-li.313682.
    5) Vgl. Ökumenisches Netz Rhein-Mosel-Saar: Ukraine – Ein Krieg um die zerfallende Weltordnung, Koblenz 2022,
    6) https://www.oekumenisches-netz.de/2022/03/netz-stellungnahme-ukraine-ein-krieg-um-die-zerfallende-weltordnung/

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